Philipper 2: Menschwerdung oder Zweiter Adam?

Philipper 2: Menschwerdung oder Zweiter Adam?

Tilmann Oestreich, 07.10.2019

Wenn [es] nun irgendeine Ermunterung [gibt] in Christus, wenn irgendeinen Trost [der] Liebe, wenn irgendeine Gemeinschaft [des] Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen, [so] erfüllt meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes, nichts aus Streitsucht oder eitlem Ruhm [tuend], sondern in der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst; ein jeder nicht auf das Seine sehend, sondern ein jeder auch auf das [der] anderen.

[Denn] diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus [war], der, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit [der] Menschen geworden ist, und, in [seiner] Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz.

Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen gegeben, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, [der] Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, [des] Vaters.

— Philipper 2,1-11
Elberfelder 2003

Gibt es also irgendwelchen Aufruf (und Trost) in Christus, gibt es tröstlichen Zuspruch der Liebe, gibt es Gemeinschaft des Geistes, gibt es Herzlichkeiten und Erbarmungen, so macht meine Freude völlig damit, dass ihr derselben Gesinnung seid, dieselbe Liebe habt, in der Seele verbunden und auf EINES bedacht seid, nichts nach Streitsucht oder leerer Ruhmsucht bedenkt, sondern in einer demütigen Gesinnung einer den anderen höher achtet als sich selbst; jeder gebe Acht nicht nur auf das Eigene, sondern jeder auch auf das der anderen;

denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus vorhanden war, der, als er sein Dasein in der Gestalt Gottes führte, es nicht als ein An-sich-zu-Reißendes erachtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte; er nahm nämlich die Gestalt eines leibeigenen Knechtes an, wurde nämlich den Menschen gleich; und in der äußeren Erscheinung als Mensch erfunden erniedrigte er sich selbst; er wurde nämlich gehorsam bis zum Tode, zum Tode an einem Kreuz.

Darum erhöhte Gott ihn auch über die Maßen und gab ihm (aus Gnade) einen Namen, der über allen Namen ist, damit in dem Namen Jesus sich alle Knie beugen, derer im Himmel und derer auf der Erde und derer unter der Erde, und jede Zunge das Bekenntnis zum Ausdruck bringe, dass Jesus Christus Herr sei, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters

— Philipper 2,1-11
Prof. Herbert Jantzen (2009)

Einleitung

Ich möchte euch heute hier eine Auslegung von Philipper 2 aufzeigen, die abweicht von der traditionellen Auslegung dieses Abschnitts in den allermeisten evangelikalen Veröffentlichungen zu diesem Text. Der hier präsentierte Ansatz greift dabei auf die reichhaltige Typologie des Alten Testaments zurück und kombiniert so biblische und theologische Themen auf insgesamt schlüssigere Art und Weise.[1]

Traditionell wird dieser Abschnitt im Hinblick auf die Menschwerdung Jesu verstanden. Ich zeige hier eine Auslegung auf, die in diesem Abschnitt den Fokus auf die Haltung und Einstellung des Messias Jesus während seines Dienstes auf dieser Erde legt. Es geht nach diesem Ansatz um den Gottmensch Jesus, den zweiten Adam, und sein Verhalten und Handeln hier auf Erden.

Ganz klar: die Menschwerdung Jesu wird natürlich vorausgesetzt. Jesus als Mensch steht ja im Fokus des Abschnitts. Aber es geht hier eben nicht um den Akt seiner Menschwerdung selbst. Stattdessen geht es um seine Einstellung, seine Haltung, sein Dienst als Knecht. Er wird uns hier als der Zweite Adam gezeigt und wir finden einige adamitische Themen und Anspielungen aus Genesis 2, 3 und 4 und Hesekiel 28. Außerdem finden wir das Knecht-Thema aus Jesaja 42-53.

Uns wird in diesem Abschnitt der Kontrast zwischen dem Ersten Adam und dem Zweiten Adam gezeigt. Der Erste Adam war selbstgerecht, stolz und eigensüchtig. Der Zweite Adam dagegen hat sich als wahrer König gezeigt: demütig und wahrhaftig.

Traditionelle Sicht

Die meisten Ausleger vertreten einen Standpunkt, die ich hier die »traditionelle Sicht« nenne.[2] Gemäß dieser Auslegung ist der Fokus dieser Stelle die Menschwerdung Jesu. Das Subjekt dieser Stelle ist die zweite Person der Dreieinigkeit vor der Menschwerdung. Wenn Paulus hier von der »Gesinnung« Christi spricht, meint er die Haltung des Sohnes Gottes, aus der heraus er die menschliche Natur angenommen hat. Der Sohn Gottes war bereit, gedemütigt zu werden. »Sich selbst zu nichts zu machen« (bzw. »sich selbst zu entäußern«) und »sich zu demütigen« heißt nach diesem Verständnis, ein Mensch zu werden. Die Annahme der menschlichen Natur ist ein Akt der Demütigung bzw. ein Erweis seiner Demut. Diese Demütigung erreicht ihren Höhepunkt im »Gehorsam bis zum Tod«. Zusammengefasst kann man sagen, dass die Selbst-Entäußerung oder -Entleerung soviel wie »Menschwerdung« bedeutet.

An diese Auslegung kann man einige Anfragen stellen bzw. ergeben sich bei näherer Betrachtung theologische Ungereimtheiten.

Wenn es heißt, dass sich die zweite Person der Gottheit, der prä-existente Sohn, selbst entäußerte bzw. entleerte, geht die traditionelle Sicht davon aus, dass er sich von etwas entäußerte. DieseAussage wird im Sinne von Verzicht oder Aufgabe verstanden. Es stellt sich die Frage: Von was oder wessen hat sich der Sohn Gottes entäußert bzw. entleert? Hat er sich des Gott-Gleichseins entäußert, da es ja heißt, dass er es »nicht als einen Raub betrachtete, Gott gleich zu sein«. Dies kann jedoch nicht sein, denn Jesus war gleichzeitig vollkommen Mensch und doch auch vollkommen Gott. Er war der menschgewordene Gott. Hätte er sein Gott-Gleichsein aufgegeben, wäre er nicht mehr ganz Gott gewesen. Deshlab bleibt die Frage: Wessen entleerte sich der Sohn Gottes?

Teilweise wird diesem Einwand derart begegnet, dass »entäußert« bzw »entleert« in diesem Abschnitt metaphorisch zu verstehen sei und bedeutet, dass Jesus demütig gewesen ist. Insgesamt scheint die traditionelle Auslegung aber doch zu implizieren, dass der Sohn Gottes auf einen Teil seines Gott-Gleichseins verzichtet hat.

Alternative Auslegung im Überblick

Nach der alternativen Auslegung, die ich hier präsentiere, ist das Subjekt in Philipper 2 nicht der prä-existente Sohn Gottes sondern der Christus Jesus, der menschgewordene Gottessohn. Es geht hier um den Messias und seinen Dienst auf der Erde. In Vers 5 wird uns auch nicht abstrakt der Sohn Gottes vorgestellt sondern Paulus weist seine Leser auf »den Christus Jesus« hin. Paulus stellt uns den Mensch und Messias Jesus vor Augen. In Vers 6 schreibt Paulus: »da er in Gestalt Gottes war«. Auch hier deutet uns Paulus auf den Christus hin, der Mensch geworden war. Gott hat für uns Gestalt angenommen.

Wenn wir in Vers 6 lesen, dass Jesus »es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein«, ist damit gemeint, dass Jesus das Gott-Gleichsein nicht als etwas angesehen hat, dass man gewaltsam ergreift wie Adam es gemacht hat. Dies steht im Kontast zu der traditionellen Sicht, in der diese Aussage dahingehend verstanden wird, dass Jesus sich nicht an das Gott-Gleichsein geklammert hat. Der Fokus in diesem Abschnitt in Philipper 2 liegt als auf dem Messias Jeasus, auf dem Mensch Jesus, der der Zweite Adam geworden ist. Im Gegensatz zum Ersten Adam griff er nicht nach dem Gott-Gleichsein.

In Vers 7 heißt es je nach Übersetzung, dass Er »sich selbst zu nichts macht« oder Er »sich selbst entäußerte«. Die traditionelle Sicht sieht hier die Aussage: »er entäußerte sich selbst von etwas …​«. Im Griechischen finden wir das von etwas jedoch nicht. Vielmehr steht dort nur: »Er entäußerte sich selbst.« Die Betonung liegt auf »sich selbst«: »Er entäußerte sich selbst.« Jesus gab sich selbst in den Tod. Dieser Ausdruck beschreibt bildhaft Seinen Tod.

In der folgenden Aufzählung von Partizip-Konstruktionen geht es bei allen Aussagen um Seinen Tod; diese bilden den Kontext zu der Aussage der Selbst-Entäußerung. Vers 8 und folgende bilden dann den krönenden Abschluss. Weil der Zweite Adam, der Gott-Mensch und Christus Jesus, gehorsam war bis zum Ende seine Lebens, wurde er von Gott erhöht und verherrlicht, so wie Adam hätte erhöht und verherrlicht werden sollen. Der Gott-Mensch Jesus sitzt jetzt wahrhaft erhöht zur Rechten Gottes.

Alternative Auslegung im Detail

Nach der kurzen Vorstellung der alternativen Auslegung folgt in diesem Abschnitt eine detaillierte Begründung und Diskussion dieser Position.

Vers 5

[Denn] diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus [war].

— Vers 5

Wie bereits oben beschrieben ist das Subjekt dieses Abschnitts der Christus Jesus. »Christus« heißt »Messias« und ist der Titel des Gott-Menschen Jesus, nicht des prä-existenten Sohnes vor Seiner Menschwerdung.

Die Aufforderung Paulus' – »diese Gesinnung sei in euch« – zielt nicht auf die individuelle Haltung des Einzelnen ab, der die persönliche Haltung Jesu übernehmen soll. Dieser Gedanke ist natürlich grundsätzlich nicht verkehrt aber nicht das, was Paulus hier im Blick hat. Heutzutage in unserer Gesellschaft des Individualismus und der Selbstverwirklichung denken sehr schnell in diesen Bahnen und nehmen diese Aussage des Paulus so wahr. In verschiedenen Bibelübersetzungen schwingt dieser Tenor auch durchaus mit:

Seid so gesinnt, wie es Christus Jesus war!

— Albrecht Bibel (1926)

Have this attitude in you which is in Christ Jesus.

— ASV

Let this mind be in you, which was also in Christ Jesus.

— KJV

Make your own attitude that of Christ Jesus.

— Holman Christian Standard Bible

Allerdings ist die Aufforderung im Plural formuliert:

Solche Gesinnung wohne in euch allen.

— Menge Bibel

Have this mind among yourselves.

— ESV

»Habt diese Gesinnung in [oder: unter] euch allen«, schreibt Paulus. Wenn man den Kontext der ersten vier Verse dazunimmt, wird deutlich, dass es nicht um ein abstraktes Nachahmen der Gesinnung Christi geht, sondern darum, wie sich die Christen in Philippi untereinander behandeln; wie sie sich gegenseitig behandeln. Es gibt Übersetzungen (bzw. Übertragungen), die diesen Gedanken transportieren.

Das ist die Haltung, die euren Umgang miteinander bestimmen soll.

— NGÜ

In your relationships with one another, have the same mindset as Christ Jesu.

— NIV

Die Haltung oder Gesinnung, die Jesus als Mensch hier auf der Erde vorgelebt hat, soll uns Christen im Umgang mit unseren Geschwistern bestimmen. Immerhin sind wir als seine Nachfolger alle in Christus. Und wenn wir in Christus sind und Er unser Haupt ist, dann sollen und müssen wir so handeln wie unser Haupt.

Ganz im Gegensatz dazu stehen alle, die in Adam sind. Wer nämlich in Adam ist, verhält sich wie sein Haupt Adam. In Adam-Sein ist unsere alte Natur; das, was die Bibel oft »Fleisch« nennt. Wie sieht dieses Adam-Verhalten aus? Die Antwort ist erschütternd: Lüge, Selbstsucht, Stolz, Hochmut, Selbstgerechtigkeit, Egoismus. Wir schauen lieber nach uns selbst als nach unserem Nächsten.

Die Aufforderung hier in Vers lautet: Verhaltet euch anders! Seid keine Adams mehr! Verhaltet euch im Umgang mit euren Geschwistern so wie Christus sich verhalten hat! Christi Leben soll sich in eurem Leben widerspiegeln!

Von Vers 5 ausgehend, zeigt Paulus uns am Leben Jesu auf, was es heißt, unter diesem Bundeshaupt zu leben. Und wenn diese alternative Sichtweise richtig ist und es also um den Messias Jesus und sein Verhalten als Mensch hier auf der Erde geht, dann handelt diese ganze Stelle nicht von der Menschwerdung Jesu. In diesen Versen geht Paulus natürlich davon aus, dass Jesus als Mensch in die Welt gekommen ist. Aber das ist hier nicht der Fokus bzw. das Thema. Es geht darum, wie der Mensch Jesus sich Verhalten hat; was er als Mensch getan hat.

Vers 6

In Vers 6 geht es weiter mit »da er in Gestalt Gottes war« (Elerfelder 2003) oder wie Prof. Herbert Jantzen es formuliert: »Als er sein Dasein in der Gestalt Gottes führte.«

Nach dem traditionellen Verständnis geht es hier um die wesensmäßige Teilhabe des Sohnes an der Natur Gottes. Die Aussage von dem Vers ist dann im Wesentlichen, dass Jesus von Natur ganz Gott ist.

Diese Aussage ist natürlich absolut richtig, aber nach der hier vorgestellten Auslegung nicht das, worum es Paulus hier geht. Vielmehr sehen wir in dieser Aussage eine Anspielung auf Genesis 1. Dort sagt Gott: »Lasst uns Menschen machen in unserem Bild, nach unserem Gleichnis.« (Gen 1,26) Der Mensch ist nach dem Bild – nach der Gestalt – Gottes erschaffen worden. Jesus wurde als Mensch auch nach dem (oder im) Bilde Gottes erschaffen. Er war der Sohn Gottes. Aber er war auch Mensch; und als solcher im Bilde Gottes geschaffen. Diesen Gedanken finden wir an verschiedenen Stellen im Neuen Testament.

[D]er [das] Bild des unsichtbaren Gottes ist, [der] Erstgeborene aller Schöpfung. Denn durch ihn sind alle [Dinge] geschaffen worden, […​].

— Kolosser 1,15

[D]er das Ebenbild des unsichtbaren Gottes ist, Erstgeborener aller Schöpfung.

— Kolosser 1,15
Prof. Herbert Jantzen (2009)

Nachdem Gott vorzeiten vielfältig und auf vielerlei Weise zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Weltzeiten geschaffen hat. Dieser ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und die Ausprägung (oder: der Abdruck) seines Wesens und trägt das Weltall durch sein Allmachtswort.

— Hebräer 1,1-3
Menge Bibel

Jesus ist das Bild, Abbild oder Ebenbild Gottes und der Abdruck seines Wesen. Das Bild Gottes ist nicht der Mensch sondern das Bild Gottes ist der Sohn.

In der Elberfelder Übersetzung heißt es weiter: »Sah er doch das Gleichsein mit Gott nicht als einen gewaltsam festzuhaltenden Raub an.« Statt »festzuhalten« wäre hier auch eine Übersetzung »zu ergreifen« möglich. Prof. Jantzen formuliert dies in seiner Übersetzung auch so: »Der […​] es nicht als ein An-sich-zu-Reißendes erachtete, Gott gleich zu sein.« Jesus sah das Gott-Gleichsein nicht als etwas an, dass man an sich reißt. Das man sich einfach nimmt, ohne dass der Zeitpunkt dazu schon gekommen wäre. Jesus war kein Räuber, kein Dieb, der unrechtmäßig ergreift, was noch nicht für Ihn bestimmt war. Während Seines Dienstes auf der Erde war Jesus noch nicht zu völliger Gleichheit mit Gott erhöht. Diese Erhöhung erwartete ihn nach Seinem Tod, Seinder Auferstehung und Seiner Rückkehr zum Vater in den Himmel. Erst nachdem Sein Dienst auf der Erde beendet war, hat Jesus das Gott-Gleichsein von Seinem Vater empfangen. Als der Zweite Adam musste er zuerst demütig, geduldig und gehorsam sein.

[Der] obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam lernte;

— Hebräer 5,8

Hinter dem Ausdruck Gleichsein mit Gott steckt die Idee des Erhöht- und Verherrlicht-Werdens. Jesus hat nicht versucht, das zu ergreifen, was Gott der Vater Ihm verheißen hatte, wenn er der geduldige, gehorsame und demütige Knecht sein würde.

Wir sehen hier eine Anspielung auf den Sündenfall in Genesis 3. Dort sagte die Schlange zu der Frau: »Ihr werdet durchaus nicht sterben, sondern Gott weiß, dass an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses.« (Gen 3,4-5) »Ihr könnt sein wie Gott. Hier und sofort! Ihr müsst nur von dieser Frucht essen. Warum wollt ihr warten und Anstrengungen auf euch nehmen für etwas, das ihr sofort haben könnt?« Satan hat Eva und Adam einen vermeintlich einfachen und kurzen Weg aufgezeigt und sie haben zugegriffen, haben von der Frucht gegessen und mit der Frucht haben sie nach dem Gleichsein wie Gott gegriffen. Adam umging den Weg des Gehorsams und des Dienens, an dessen Ende der Segen gelegen hätte.

Jesus dagegen hat das Gleichsein wie Gott nicht als etwas angesehen, dass man sich vorzeitig einfach nimmt. Dass man ergreift bevor die Zeit reif ist und ohne den dafür eigentlich vorgesehenen Weg zu gehen. Jesus war geduldig und gehorsam.

Satan hat auch Jesus, den Zweiten Adam, herausgefordert und versucht. Er wollte Ihn dazu verführen, sofort nach dem Gleichsein mit Gott zu greifen. (s. Mt 4,1-11) Satan hat Ihm Macht über alle Königreiche der Erde angeboten. »Du kannst dies alle sofort haben. Es muss doch nicht hässlich werden zwischen uns. Verbeug dich nur vor mir. Dann bist du erhöht und hast alle Macht auf der Erde.« Aber Jesus hat dazu »Nein« gesagt. Er hat nicht den leichten Weg genommen. Er hat ein Leben des demütigen Dienens als Knecht nicht umgangen. Er hat den Pfad des Knechtseins nicht verlassen. Der Zweite Adam war treu und gehorsam. Er lehnte das Angebot Satans ab. Er entschloss sich stattdessen, sich selbst zu entäußern. Er war gehorsam bis zum Tod.

Vers 7 & 8

Nachdem wir nun erfahren haben, dass Jesus es abgelehnt hat, das Gott-Gleichsein einfach zu ergreifen und den mühevollen Weg des Knechtseins zu umgehen, zeigt uns Paulus in Vers 7, wie der Weg des Messias war, der zur Erhöhung geführt hat, auf welchem Weg Jesus das Gott-Gleichsein empfangen hat.

Paulus beginnt mit der Aussage »er entäußerte sich selbst«. Hier haben wir ein reflexives Personalpronomen (sich selbst, engl. himself). Die Betonung liegt hier auf sich selbst. Er entäußerte sich selbst. Diese Auslegung passt hervorragen zu der Prophetie aus Jesaja 53. Dort lesen wir:

Darum werde ich ihm Anteil geben an den Vielen, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen: dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist; er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Übertreter Fürbitte getan.

— Jesaja 53,12 (Hervorhebungen hinzugefügt)

Wir lesen dort über den Knecht, dass er »seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod«. Das ist die Selbstentäußerung oder -entleerung, von der Paulus in Philipper 2 schreibt.

Betrachten wir den Ersten Adam im Lichte dieser Aussage. Hat der Erste Adam sich selbst entäußert, sich seiner Selbst entleert? Nein, im Gegenteil! Er hat sich selbst gefüllt mit der verbotenen Frucht. Er wollte ein Leben der Knechtschaft umgehen sofort Gott gleich sein. Hat er sich selbst hingegeben, um seine Braut zu schützen? Wir können diesen Gedanken erweitern und fragen: Hat er sein Leben gelassen, um andere zu schützen, insbesondere seine Frau? Nein! Stattdessen hat er mit seiner Frau ein Experiment gemacht: »Wird sie wohl sterben, wenn sie von der Frucht isst?« Vielleicht hätte Adam stattdessen sein Leben lassen sollen, um seine Frau zu schützen. Und vielleicht wäre er danach erhöht worden.

Eine schlechte Übersetzung dieser Stelle ist »er machte sich selbst zu nichts«. Hinter dieser Übersetzung steckt sehr deutlich die Menschwerdung-Auslegung.

Es folgen Partizip-Konstruktionen, die oft »indem« (engl. »by«) übersetzt werden. Aber das steht dort nicht. Diese Konstruktionen werden besser mit »weil« oder »nämlich« übersetzt. Das finden wir in der Übersetzung von Prof. Jantzen.

sondern sich selbst entäußerte;
er nahm nämlich die Gestalt eines leibeigenen Knechtes an,
wurde nämlich den Menschen gleich;
und in der äußeren Erscheinung als Mensch erfunden erniedrigte er sich selbst;
er wurde nämlich gehorsam bis zum Tode, zum Tode an einem Kreuz.

— Philipper 2,7-8
Prof. Herbert Jantzen (2009)

Mit dieser Aufzählung bekommen wir den Kontext zu der Selbst-Entäußerung Jesu. Warum hat sich der Messias selbst entäußert? Warum musste das passieren?

Er musste sich selbst entäußern, weil er Knechtsgestalt angenommen hat. Der Knecht taucht in den Prophetien Jesajas in den Kapiteln 42, 52 und 53 auf.

Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.

— Jesaja 42,1

Siehe, mein Knecht wird einsichtig handeln; er wird erhoben und erhöht werden und sehr hoch sein.

— Jesaja 52,13

Jesus ist die Erfüllung dieser Knechts-Prophetien. Jesus ist der von Jesaja angekündigte Knecht. Und dieser Knecht musste leiden und sich selbst entäußern.

Darum werde ich ihm Anteil geben an den Vielen, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen: dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist; er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Übertreter Fürbitte getan.

— Jesaja 53,12 (Hervorhebungen hinzugefügt)

Weil Jesus die Knechtsgestalt angenommen hat, von der Jesaja geredet hat, musste er sich selbst entäußern. Deshalb musste er gehorsam sein bis zum Tod. Und um die Knechts-Prophetien zu erfüllen, musste Jesus ganz Mensch werden. »Er wurde den Menschen gleich«, »wurde in Gleichheit mit den Menschen gefunden«. Weil Jesus Mensch wurde und weil er so der von Jesaja angekündigte Knecht wurde, musste er sich selbst entäußern. Und das Jesus ganz Mensch geworden ist, war für jeden sofort sichtbar und offenkundig, der Ihm damals begegnet ist und Ihn gesehen hat. Er wurde »in der äußeren Erscheinung als Mensch gefunden.« Diesen letzten Gedanken finden wir auch sehr deutlich in der Übersetzung von Johannes Greber:

[E]r hat sich vielmehr selbst entäußert und die äußere Gestalt des Knechtes angenommen und ist den Menschen vollkommen gleich geworden; in seinem irdischen Leben ist er wie ein gewöhnlicher Mensch erfunden worden. Er verdemütigte sich selbst durch seinen Gehorsam bis zum Tode - dem Kreuzestode.

— Philipper 2,7
Johannes Greber NT (1936)

Das Resultat von all diesem und der letzte Akt des Sich-Entäußerns und des Demütig-Seins ist Tod, ja sogar Tod am Kreuz. Jesus hängt in seinem Tod an einem Baum. Haben wir hier wieder eine symbolische Verbindung mit dem Garten-Motiv?

Verse 9-11

Jesus ist der Zweite Adam. Er ist demütig und gehorsam bis zum Ende. Er geht den Weg des Knechts bis zum Ende, bis zum Tod. Jesus stirbt für seine Braut, ganz anders als der Erste Adam, der nicht demütig und gehorsam war. Adam hat seine Braut verraten und beschuldigt anstatt sie zu beschützen und für sie zu sterben. Adam wurde deshalb aus dem Paradies vertrieben und Cherubim mit flammenden Schwertern haben den Weg in dieses Paradies verschlossen. Da Jesus bis zu seinem Tod gehorsam und treu war und den Weg der Knechtschaft bis zum Ende gegangen ist, legen die Cherubim ihre flammenden Schwerter nieder. Sie geben den Weg wieder frei. Der Gott-Mensch Jesus, der Zweite Adam, darf wieder in das Paradies zurückkehren. Er ist erhöht worden auf dem Berg, auf dem der erste Adam hätte erhöht werden sollen.

Darum werde ich ihm Anteil geben an den Vielen, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen: [weil] (dafür, dass) er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist; er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Übertreter Fürbitte getan.

— Jesaja 53,12 (Hervorhebungen hinzugefügt)

Jesus wurde erhöht und verherrlicht, weil Er seine Seele ausgeschüttet hat, weil Er sich selbst entäußert hat in den Tod.

Ziel

Paulus geht es nicht in erster Linie darum, dass unsere Einstellung und unsere Haltung eine Nachahmung des Charakters Jesu ist. Stattdessen liegt hier der Fokus auf dem Umgang, den wir als Nachfolger Christi miteinander pflegen. Sind wir nur auf das unsere bedacht wie der Erste Adam? Oder zeigen wir in unserem Miteinander, dass wir in Christus sind? Stellen wir uns selbst zurück, entäußern wir uns selbst, um unseren Geschwister zu dienen? Wenn wir sagen, dass wir in Christus sind, sollte man das an unserem Umgang miteinander erkennen können.

Zum Abschluss ein paar Anmerkungen zu der hier vorgestellten Auslegung. Sprache und Grammatik stützen im Großen und Ganzen eher die traditionelle Auslegung. An der Varianz der Übersetzungen kann man aber zumindest erkennen, dass die Sprache hier nicht ganz einfach und durchaus mehrdeutig ist. Insofern ist dies kein Punkt, der die vorgestellte Auslegung von vornherein widerlegt.

Dieser Text hat natürlich eine sehr lange Auslegungsgeschichte. Schwieriger wiegt daher schon eher, dass das Gros der Ausleger von den Kirchenvätern über die Reformatoren und deren Nachfolger bis hin zu modernen Auslegern den traditionellen Standpunkt vertritt. Wenn die hier vorgelegt Auslegung richtig wäre, würde das heißen, alle diese Ausleger lagen und liegen falsch …

Anhang A: Liste der Anspielungen in Philipper 2

Literarische und thematische Anspielungen in Philipper 2:

  • Genesis 1: Gestalt Gottes

  • Genesis 3: Gott gleich sein

  • Jesaja 42, 52, 53: Knechtsgestalt annehmen, der Knecht

  • Genesis 2,15: Knechtsgestalt annehmen. Adam sollte den Garten bewahren und bebauen; er sollte im Garten dienen, was unter anderem hieß, dass er seine Frau beschützen sollte.

  • Jesaja 14 & Hesekiel 28: Demütigte sich selbst

    • Der »König von Tyrus« steht für den Hohepriester Israels. In diesem wiederum sehen wir Adam.

    • Es geht in diesen Kapiteln um den ursprünglichen adamitischen Priester, der versagt hat, weil er Stolz war. Er demütigte sich nicht selbst.

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1. Die Gedanken hier basieren auf einem Vortrag von Jeffrey J. Meyers auf der Biblical Horizons Conference 1995: Interpretation of Philippians 2 – Incarnation or New Adam. Der Vortrag kann auf http://www.wordmp3.com/ erworben werden (http://www.wordmp3.com/details.aspx?id=4806).
2. Der evangelikale Standardkommentar zum Philipperbrief von Peter O’Brien zum Beispiel vertritt diesen Standpunkt. Peter O’Brien, The Epistle to the Philippians. 2014 (NIGTC)