Einleitung zur Offenbarung des Johannes

Einleitung zur Offenbarung des Johannes

Tilmann Oestreich, 11.06.2018

Auslegungen der Offenbarung

Es gibt insgesamt vier Auslegungstraditionen zum Buch der Offenbarung.

Historistische Auslegung

Offenbarung beschreibt die gesamte Zeit zwischen Jesu Erstem und Zweitem Kommen. Teilweise wird die Offenbarung so verstanden, dass diese Epoche mehrmals aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt wird. Die Offenbarung wird dann zyklisch und nicht chronologisch gelesen.

Beispiele für Vertreter dieser Sichtweise: Wycliffe, John Knox, William Tyndale, Jan Huss, Martin Luther, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli, Philip Melanchthon, Isaac Newton, John Fox, John Wesley, Jonathan Edwards, George Whitefield, Charles Finney, C.H. Spurgeon, Matthew Henry

Präteristische Auslegung

Die Offenbarung beschreibt hauptsächlich Ereignisse des 1. Jahrhunderts, die aber zum Zeitpunkt des Aufschreibens des Buches tatsächlich noch in der Zukunft lagen.

Es gibt hier verschiedene Varianten:

  • Startpunkt der Ereignisse in Offenbarung

    • Himmelfahrt

    • kurz vor Ausbruch des jüdisch-römischen Krieges

  • Ende

    • Fall Jerusalems 70 n.Chr.

    • Fall des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert

Die gemäßigten Präteristen sehen in den letzten Kapiteln eine Beschreibung des letzten Gerichts und damit des Zweiten Kommens Jesu.

Beispiele für Vertreter dieser Sichtweise: Kenneth L. Gentry, James B. Jordan, Peter J. Leithart, Jay E. Adams, David Clark, J. Stuart Russell, David Chilton, R.C. Sproul

Futuristische Auslegung

Ab Kapitel 4 liegen die geschilderten Ereignisse auch für uns heute noch in der Zukunft und warten auf ihre Erfüllung.

Folgende Ereignisse werden nach dieser Sichtweise in der Offenbarung geschildert:

  • Große Trübsal vor Jesu Zweitem Kommen

  • Entrückung

  • Das Zweite Kommen Christi

  • Endgericht

  • Neuer Himmel und Neue Erde (=Ewigkeit)

Beispiele für Vertreter dieser Sichtweise: Walvoord, Gaebelein, Benedikt Peters, Hal Lindsey, Scofield, Ryrie, Henry Morris, Dwight D. Pentecost

Geistliche Auslegung

Es geht bei den Prophetien der Offenbarung nicht um konkrete Ereignisse. Es geht um transzendente Prinzipien und Ideen und wiederkehrende Themen. Es gibt keine individuelle oder spezifische Erfüllung.

Dieser Ansatz wird auch allegorisch, symbolisch oder poetisch genannt.

Beispiele für Vertreter dieser Sicht: William Hendriksen, Leon Morris, Michael Wilcock, Harvey Blaney, A. Pohl

Datierung

Das Gericht an Israel, Jerusalem und dem Tempel war ein oft wiederholtes Thema während Jesu Dienst auf der Erde. Den Höhepunkt findet dieses Thema in der Rede auf dem Ölberg: die Zerstörung des Tempels innerhalb einer Generation wird vorhergsagt. Die alte Schöpfung (der Alte Bund) wird aufgelöst und macht der neuen Schöpfung (der Neue Bund) Platz. Ob Jesus wahrhaftig ist, wer er behauptet zu sein, entscheidet sich also auch ganz wesentlich an dem Eintreten dieser Prophezeiung. Und diese Dinge sind wirklich passiert! Das Eintreffen des Gerichts über Jerusalem und den Tempel ist die Verherrlichung Christi. Es wäre seltsam, wenn ein Teil des NT nach 70 n.Chr. geschrieben worden wäre und nicht auf diesen Triumpf irgendwie Bezug genommen hätte! Also muss auch die Johannes Offenbarung vor 70 n.Chr. fertiggestellt worden sein.

Interne Belege

  • Johannes erwähnt in Off 11 den Tempel

    • Dieser steht laut V8 explizit in der großen Stadt, […​] wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde, d.i. Jerusalem

    • Der Tempel stand zur Zeit der Offenbarung also noch

Schlussfolgerung daraus: Johannes schreibt vor der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr.

Die Offenbarung sagt kurz bevorstehende Ereignisse voraus

Es werden zwei verschiedene griechische Worte verwendet, um die Unmittelbarkeit oder Das-Kurz-Bevorstehen der offenbarten Ereignisse zu verdeutlichen. Beide Ausdrücke tauchen sowohl im ersten als auch im letzten Kapitel auf und bilden also eine Klammer um die Offenbarung

Das Wort »engys«

Glückselig, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und bewahren, was in ihr geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.

— Offenbarung 1,3 (Hervorhebung hinzugefügt)

Dieser Ausdruck wird auch nochmal in 22,10 verwendet. engys hat die Bedeutung nahe. Da der Ausdruck in beiden Fällen mit Zeit gepaart ist, geht es hier offensichtlich um die zeitliche Nähe der Worte der Weissagung.

Das Wort »tachos«

Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gab, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss;

— Offenbarung 1,1a (Hervorhebung hinzugefügt)

Und er sprach zu mir: Diese Worte sind gewiss und wahrhaftig, und der Herr, der Gott der Geister der Propheten, hat seinen Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss. Und siehe, ich komme bald. Glückselig, der die Worte der Weissagung dieses Buches bewahrt!

— Offenbarung 22,6-7 (Hervorhebung hinzugefügt)

Dieser Ausdruck wird in Offenbarung auch noch an folgenden Stellen verwendet: 2,16; 3,11; 22,12.20.

tachos kann sowohl schnell als auch bald bedeuten. Da er sowohl in Kapitel 1 als auch in Kapitel 22 jedes Mal gemeinsam mit der Formulierung die Zeit ist nahe steht, liegt es nahe, in der Offenbarung von der Bedeutung bald auszugehen.

Die Siegel bei Daniel und in der Offenbarung

Die Unmittelbarkeit der Ereignisse wird durch einen weiteren Punkt im Vergleich mit Daniel noch verstärkt. In Kapitel 11 und 12 sieht Daniel eine Vision, die sich auf die Jahrhunderte nach dem Zerfall des alexandrinischen Reiches bezieht. Er sieht das Schicksal Judas, das zwischen zwei dieser Nachfolgereiche lag (Seleukius und Ptolemäus). Am Ende dieser Vision erhält Daniel folgende Anweisung:

Und ich hörte es, aber ich verstand es nicht; und ich sprach: Mein Herr, was wird das Ende davon sein? Und er sprach: Geh hin, Daniel; denn die Worte sollen verschlossen und versiegelt sein bis zur Zeit des Endes.

— Daniel 12,8-9

Es geht bei Daniel um einen Zeitraum mehrere hundert Jahre nach ihm. Er versteht die Vision nicht und er bekommt die Anweisung, seine Worte (sein Buch) zu versiegeln, da das Ende der angekündigten Zeit noch nicht nahe ist.

Demgegenüber erhält Johannes am Ende der Offenbarung folgende Anweisung:

Und er spricht zu mir: Versiegle nicht die Worte der Weissagung dieses Buches; denn die Zeit ist nahe.

— Offenbarung 22,10

Johannes soll seine Worte nicht versiegeln, da die Zeit ihrer Erfüllung nahe ist. Die natürliche Erwartung wäre, dass die Zeit bis zur Erfüllung deutlich kürzer ist als bei Daniel. Bei Daniel vergingen einige hundert Jahre. Eine Verlegung der Ereignisse der Offenbarung in unsere Zukunft - inzwischen etwa zweitausend Jahre nach Johannes - verträgt sich damit nicht.

Im Spannungsfeld des Nahe-Bevorstehens in der Sprache der Offenbarung und der Frage, von welcher Zeit Johannes redet, gibt es drei Möglichkeiten, dies aufzulösen:

  1. Jesus und der Apostel Johannes meinten was sie gesagt haben, aber sie haben sich geirrt; die Ereignisse sind bisher noch nicht eingetreten.

  2. Der Eindruck der zeitlichen Unmittelbarkeit darf nicht wörtlich verstanden werden; Jesus und Johannes wollten mit diesen Worten etwas anderes ausdrücken.

  3. Die Ereignisse der Offenbarung haben sich im ersten Jahrhundert ereignet.

Empfänger

  • Konkreter Brief an sieben Kirchen in Kleinasien (Off 1,4).

  • Johannes wollte verstanden werden

    Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gab, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss; und durch seinen Engel sendend, hat er [es] seinem Knecht Johannes gezeigt,

    — Offenbarung 1,1 (Hervorhebung hinzugefügt)
  • Johannes hat Teil an ihrer Drangsal

    Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse in der Drangsal und [dem] Königtum und [dem] Ausharren in Jesus, war auf der Insel, genannt Patmos, um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen.

    — Offenbarung 1,9

    Hier wird dasselbe Wort wie in Mt 24,21.29 verwendet.

Inhalt und Thema der Offenbarung

Die Offenbarung als Buch der Bibel

Die Offenbarung bildet den Abschluss einer langen Reihe an Offenbarungen Gottes. Johannes kann beim Verfassen der Offenbarung also auf einen sehr reichhaltigen Schatz an Themen, Bildern und Begriffen zurückgreifen. Alle Themen, Bilder oder Begriffe sind inhaltlich bereits gefüllt, teilweise auch mehrfach überladen. Johannes ist sich sehr wohl bewusst, welche Assoziationen er hervorruft und weckt.

Wenn man alle Bücher des AT und auch NT untersucht, wird man feststellen, dass die Offenbarung viele Themen wieder aufgreift; dass Johannes Begriffe verwendet, die bereits mit geistlichen Konzepten verknüpft sind; das er bekannte Muster verwendet. Dabei muss man beachten, dass nicht das erste Auftauchen eines verwandten Themas, Begriffs oder Musters entscheidend ist; es gilt jeweils zu untersuchen, wie dieses Thema bereits variiert und mit zusätzlichen Bedeutungsebenen bereichert wurde.

Es lassen sich zu jedem Buch der Bibel, AT und NT, inhaltliche Verknüpfungen zur Offenbarung finden. Um das Prinzip zu verdeutlichen, sind diese Parallelen unten auszugsweise für die Bücher Genesis und Exodus aufgeführt:

AT-Buch Thema Offenbarug

Genesis

Schöpfung, 1

Siebener-Sequenzen, 2-3; 6,1 - 8,4; 8,6 - 11,18; 16,1-21

Adam und Eva, 2

Menschensohn und Braut, 1,13; 21,1-8

Garten, 2,8

Gottes Paradies, 2,7

Baum des Lebens, 2,9

Baum des Lebens, 2,7

Schlange (und Eva), 3,1-7

Drache (und Frau), 12,1-5; 20,2

Regenbogen, 9,13-16

Regenbogen, 4,3; 10,1

Babel, 11,1-8

Babylon, 14,8; 17-18

Sodom, 18-19

Sodom, 11,8

Juda ist ein Löwe, 49,9

Löwe von Juda, 5,5

Exodus

Ich bin, 3,14

Ich bin, 1,8.17; 22,13.16

Plagen, 5-11

Plagen, 15,1

Fluss wird zu Blut, 7,19

Wasser wird zu Blut, 8,8-9; 11,6; 16,3-4

Frösche, 8,1-13

Frösche, 16,13

Hagel, 9,18-35

Hagel, 8,7; 16,21

Heuschrecken, 10,1-20

Heuschrecken, 9,1-11

Passah-Lamm, 12

Lamm, 5,6

Bitteres Wasser, 15,23-25

Vergiftetes Wasser, 8,10-11

Moses Lied, 15,1-18

Moses Lied, 15,1-4

Manna, 16,1-36

Manna, 2-17

Königreich von Priester, 19,6

Königreich von Priestern, 1,6; 5,10; 20,6  

Donner und Blitz, 19,16

Donner und Blitz, 4,5; 8,5; 16;18

Schöpfergott, 20,11

Schöpfergott, 10,6

Stiftshütte, 25-31

Ausgebreitetes Zelt, 7,15; 21,3

Bundeslade, 25,10-22

Bundeslade, 11,19

Bronzealtar, 27,1-8

Altar, 6,9

Goldener Altar, 30,1-10

Goldener Altar, 8,3

Leuchtenständer, 25,31-35

Sieben Leuchtenständer, 1,12

Priesterliche Gewänder, 28

Jasper, 4,3; Name auf der Stirn, 7,3; Edelsteine, 21,19-20

Goldenes Kalb, 32

Das Bild des Tieres, 13

Gottes Herrlichkeit erfüllt die Stiftshütte, 40,34-35

Tempel gefüllt mit Rauch, 15,8

Johannes' Offenbarung ist wie Musik. Der Text muss gehört werden, wir müssen uns auf ihn einstellen, um alle Ebenen der Melodie, der Harmonie und des Rhythmus zu erfassen.

Mit den Bildern, die Johannes verwendet, gibt er uns Gedankenlinien vor. Er spielt sozusagen einige Töne einer früheren Melodie an und erwartet von uns als Lesern/Hörern, dieses Stück aufzunehmen und fertig zu denken. Nehmen wir zum Beispiel die Hure »Babylon«. Es geht nicht nur darum, alle AT-Assoziationen aufzuwecken; der Name Babylon weckt Erwartungen auf einen gewissen Ausgang der Geschichte: jedes Babel/Babylon im AT ist letztendlich zerstört worden. So passt es auch, dass die Offenbarung Babylon in 14,8 das erste Mal erwähnt, wenn ihr Fall verkündigt wird.

Zwei weitere Beispiele, um das Prinzip zu verdeutlichen: Wenn von Ägypten die Rede ist, erwarten wir Plagen, das Durchqueren eines Meeres, die Zerstörung Pharaohs, eine Wüstenwanderung, Manna, einen Sinai und eine Eroberung unter jemandem der Josua ähnelt (Jesus?!). Wenn von der Stadt Sodom die Rede ist, denken wir an zwei Engel, die kommen, sexuelle Perversion (z.B. einer Hure mit einem Tier) und Feuer vom Himmel.

Die Offenbarung erfüllt bzgl. der oben genannten Beispiele fast alle unsere Erwartungen. So kriegen wir nicht nur Einzelbilder aus dem AT sondern ganze Handlungsstränge. Diese verwebt die Offenbarung miteinander und fügt sie zu neuen Rhythmen zusammen.

Parallelen zu Matthäus 24

Fast alle Themen und Begriffe aus Matthäus 24 kommen auch in der Offenbarung vor:

Ölbergrede (Matthäus 24) Offenbarung

Verführung (24,4-5.11.24)

Verführung (2,20; 12,9; 13,14; 18,23; 20,7-10)

Krieg (24,6-7a)

 Krieg (9,7-9; 11,7; 12,7.17; 13,7; 16,14)

Hungersnot (24,7)

Hungersnot (6,8; 18,8)

Erdbeben (24,7)

Erdbeben (6,12; 8,5; 11,13.19; 16,18)

Trübsal (24,9.21.29)

Trübsal (1,9; 2,10.22; 7,14)

Gläubige werden getötet (24,9)

Gläubige werden getötet (11,7; 13,7)

Liebe erkaltet (24,12)

Erste Liebe verlassen (2,4)

Ausdauer (24,13)

Ausdauer (1,9; 2,2-3.19; 3,10; 13,10; 14,12)

Evangelium in der oikuomene verkündigt (24,14)

Evangelium allen Stämmen und Nationen verkündigt (14,6)

Zeugnis vor allen Nationen (24,14)

Zeugnis (1,2-3.9; 6,9; etc.)

Gräuel der Verwüstung (24,15)

Mutter der Gräuel (17,4-5; 21,27)

Große Trübsal (24,11)

Große Trübsal (2,22; 7,14)

Falsche Propheten (24,24)

Falscher Prophet (16,13; 19,20; 20,10)

Kommen des Menschensohnes (24,27.30)

Kommen des Menschensohnes (1,7; 14,14)

Verdunklung von Sonne und Mond (24,29)

Sonnen- und Mondfinsternis (6,12)

Sterne fallen (24,29)

Sterne fallen (6,13)

Feigenbaum (24,32)

Feigenbaum (6,13)

Jesus steht vor der Tür (24,33)

Jesus steht vor der Tür (3,20)

Johannes behandelt in der Offenbarung dieselben Themen und Ereignisse, von denen die anderen Evangelisten im Rahmen der Ölbergrede berichten:

  • Das Gericht an Jerusalem

  • Die Verherrlichung des Menschensohnes

    • Jesus Christus

    • die Gemeinde

Die Akteure in der Offenbarung sind Engel

In der Offenbarung führen Engel das Gericht aus. Dass heißt, die Schöpfung, die gerichtet wird, ist die Alte oder Erste Schöpfung.

Die Alte Schöpfug wurde von Engeln beaufsichtigt. Die Neue Schöpfung wird jetzt von der erlösten Menschheit beaufsichigt.

Im 1. Korintherbrief sagt Paulus, dass wir Gläubige des Neuen Bundes die Engel richten werden, nicht umgekehrt:

Oder wisst ihr nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden? Und wenn durch euch die Welt gerichtet wird, seid ihr unwürdig, über die geringsten [Dinge] zu richten? Wisst ihr nicht, dass wir Engel richten werden, geschweige denn [Dinge] dieses Lebens?

— 1. Korinther 6,2-3

Der Alte, mosaische Bund, die Alte Schöpfung war von Engeln angeordnet:

Deswegen sollen wir umso mehr auf das achten, was wir gehört haben, damit wir nicht etwa abgleiten. Denn wenn das durch Engel geredete Wort fest war und jede Übertretung und [jeder] Ungehorsam gerechte Vergeltung empfing, wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen?

— Hebräer 2,1-3

Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten zuvor verkündigten, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, die ihr das Gesetz durch Anordnung von Engeln empfangen und nicht beachtet habt.

— Apostelgeschichte 7,52-53

Warum nun das Gesetz? Es wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt (bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gemacht war), angeordnet durch Engel in [der] Hand eines Mittlers.

— Galater 3,19

Die Engel waren im Alten Bund unsere Lehrmeister, die Menschen waren noch unmündige Erben, Knechte der Elemente der Welt. Es waren daher auch immer wieder der Engel des Herrn und seine Engelwesen, die dem Mensch im Alten Bund begegnen und ihn leiten und richte.

Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knecht, obwohl er Herr ist von allem; sondern er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist. So auch wir: Als wir Unmündige waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt; als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die, [die] unter Gesetz [waren], loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen. Weil ihr aber Söhne seid, [so] hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater! Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, [so] auch Erbe durch Gott.

— Galater 4,1-7

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Sohn, dass du auf ihn Acht hast? Denn ein wenig hast du ihn unter die Engel erniedrigt; und mit Herrlichkeit und Pracht hast du ihn gekrönt.

— Psalm 8,5-6

Diese Ordnung der Welt war noch nicht immer so: mit der Schöpfung war der Mensch zunächst über die Engel gestellt; aber durch den Sündenfall hat der Mensch seine hohe Stellung verloren und die Engel übernehmen seine Rolle in der Schöpfung; so stehen die Cherubim – Engelwesen – als Wächter am Eingang zum Garten und verwehren dem Mensch den Zutritt. Mit dem Neuen Bund ist die ursprüngliche Schöpfungsordnung wieder hergestellt.

Was heißt das nun für Offenbarung?

  • Die Engel führen das Gericht aus.

  • Sie können aber nur das richten, für das sie Verantwortung und über das sie Gewalt haben.

  • Daher muss die in Offenbarung gerichtete Schöpfung die Alte Schöpfung sein.

Johannes-Evangelium und Offenbarung

Die beiden Bücher stehen zwar in unserem neutestamentlichen Kanon nicht nebeneinander, aber wie beim Lukas-Evangelium und der Apostelgeschichte sind diese beiden Bücher vom selben Autor und bilden auch inhaltlich eine Einheit.

Die Ölbergrede Jesu ist in allen drei synoptischen Evangelien enthalten (Matthäus, Markus und Lukas). Nur bei Johannes fehlt diese Rede. Die sprachliche und thematische Ähnlichkeit zwischen Matthäus 24 und der Offenbarung ist allerdings frappierend. Könnte es sein, dass Johannes dieses durchaus wichtige Thema in einem eigenen Buch, nämlich der Offenbarung behandelt, und diese Prophetie Jesu deshalb in seinem Evangelium »fehlt«?

Das Evangelium und die Offenbarung weisen einige strukturelle Parallelen auf. Dabei kann man die beiden Bücher sowohl hintereinander aber auch nebeneinander betrachten.

Evangelium und Offenbarung als ein zweibändiges Werk (hintereinander)

Ein Hintereinander-Stehen macht Sinn, da die beiden Bücher zum Beispiel thematisch wie von einer Klammer zusammengehalten werden. Das erste Kapitel des Evangeliums und die letzten beiden Kapitel der Offenbarung zeigen einige Parallelen in Themen und Aussagen:

Johannes-Evangelium Offenbarung

(1,1) Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.

(22,13) Ich [bin] …​ der Anfang und das Ende.

(1,3) Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eins, das geworden ist.

(21,5) Siehe, ich mache alles neu.

(1,5.9) Und das Licht scheint in der Finsternis …​ Das war das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet.

(22,5) Und Nacht wird nicht mehr sein und kein Bedürfnis nach einer Lampe und [dem] Licht [der] Sonne; denn [der] Herr, Gott, wird über ihnen leuchten

(1,14) Und das Wort wurde Fleisch und wohnte (tabernacled) unter uns

(21,3) Siehe, die Hütte (tabernacle) Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen (tabernacle)

(1,17) die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

(22,21) Die Gnade des Herrn Jesus [Christus] [sei] mit allen [Heiligen]!

(1,28.48) Dies geschah …​ jenseits des Jordan …​ »als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.«

(22,1-2) Und er zeigte mir einen Strom von Wasser [des] Lebens …​ In [der] Mitte ihrer Straße und des Stromes [war] der Baum [des] Lebens

(1,29) Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!

(22,3) Und keinerlei Fluch wird mehr sein; und der Thron Gottes und des Lammes wird in ihr sein

Darüber hinaus gibt es weitere Episoden in beiden Büchern, die zusammen passen und eine chiastische Struktur bilden.

Evangelium und Offenbarung als parallele Berichte (nebeneinander)

In der Liste unten finden wir eine Reihe von Beispielen für parallele Themen in beiden Büchern:

Johannes Offenbarung

Beginn

Ankündigung des Bräutigams

Enthüllung Jesu

Ende

Begegnung mit Maria Magdala

Offenbarung der Braut

Das Wort »Eifer« kommt jeweils nur einmal vor

Zu Beginn in 2,17 (Reinigung des Hauses Gottes)

Ebenfalls am Anfang in 3,19 (Züchtigung des Volkes Gottes)

Im Zentrum die Ankündigung des Triumphs über den Widersacher

Jetzt ist [das] Gericht dieser Welt; jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden. (12,31)

Und ich hörte eine laute Stimme in dem Himmel sagen: Nun ist das Heil und die Macht und das Reich unseres Gottes und die Gewalt seines Christus gekommen; denn [hinab]geworfen ist der Verkläger unserer Brüder, der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte. (12,10)

Kaufen und Verkaufen

Judas kontrolliert die Kasse (13,29)

Das Biest bestimmt durch sein Zeichen Kaufen und Verkaufen (13,17)

Verderben (apōleia) wird jeweils nur an einer Stelle verwendet

Judas ist ein Sohn des Verderbens (17,12)

Das Biest geht ins Verderben (17,8.11)

Thron des Gerichts

Pilatus richtet über Jesus (19,13)

Der weiße Thron des Gerichts (20,11-13)

Der Bräutigam und die Braut

  • Jesus als Bräutigam als wiederkehrendes und unvollendetes Thema im Johannes-Evangelium

  • Das erste Wunder Jesu ereignet sich auf einer Hochzeit

  • Johannes der Täufer identifiziert Jesus als den Bräutigam (Joh 3,29)

  • Ein Bräutigam braucht eine Braut. Das Evangelium ist auch die Suche nach der Braut.

    • Jesus und die Frau am Brunnen unterhalten sich auch über Heirat. Aber es gibt keine Hochzeit.

    • Jesus erscheint Maria Magdala nach seiner Auferstehung im Garten, aber er muss gehen.

  • Das alles sind Typen und Spuren der Braut, aber im Johannesevangelium findet sich keine Braut.

  • Erst am Ende der Offenbarung kommt die Braut geschmückt und bereit vom Himmel herab für die Hochzeit mit dem Lamm.

  • Ohne die Offenbarung ist das Johannes-Evangelium eine unvollständige Liebesgeschichte.

Offenbarung als Scheidebrief

Folgende Gedanken als Ausgangspunkt
  • Die Ereignisse in Offenbarung stehen kurz bevor

  • Parallelen zu Mt 24, es werden die gleichen Ereignisse behandelt

  • Das Thema des Bräutigams und seiner Braut

Gottes Braut und ihre Untreue
  • Gott hat im Alten Testament eine Braut: Israel

    Denn der dich geschaffen hat, ist dein Eheherr: ›HERR der Heerscharen‹ ist sein Name; und dein Erlöser ist der Heilige Israels: er heißt ›der Gott der ganzen Erde‹.

    — Jesaja 54,5
    Menge Bibel
  • Die Ehe ist eine Bundesbeziehung.

    Weil der Herr Zeuge gewesen ist zwischen dir und der Frau deiner Jugend, an der du treulos gehandelt hast, da sie doch deine Gefährtin und die Frau deines Bundes ist.

    — Maleachi 2,14
  • Israel betrügt Gott, indem sie anderen Göttern nachlaufen und dienen. Das ist Hurerei und ein Bruch der Bundesbeziehung.

    Wie ist zur Hure geworden die treue Stadt!

    — Jesaja 1,21

    Und ihr, naht hierher, Kinder der Zauberin, Nachkommen des Ehebrechers und der Hure! […​] Auf einem hohen und erhabenen Berg schlugst du dein Lager auf; auch stiegst du dort hinauf, um Schlachtopfer zu opfern. Und hinter die Tür und den Pfosten setztest du dein Gedächtnis. Denn von mir abgewandt decktest du auf und bestiegst, machtest breit dein Lager, und du machtest [deinen]Lohn] mit ihnen aus; du liebtest ihr Beilager, schautest ihre Blöße.

    — Jesaja 57,3.7-8
Gerichtssprache in der Offenbarung
  • Johannes sieht einen Thron im Himmel (Off 4,2)

    • Gerichtssaal, Richterstuhl

    • Dieses Bild kommt im NT 62x vorm davon 46x in der Offenbarung

  • Die Schriftrolle/das Buch in Off 5 ist der Scheidebrief (s. 5Mo 24,1-4)

    • Zum Scheidebrief für Israel und Juda siehe auch Jes 50,1; Jer 3,7-8

    • Zu Schriftrolle siehe auch Hes 2,9 - 3,7

Erfüllung des AT Gesetzes
  • Sieben Siegel = Siebenfaches Gericht in 3Mo 26,14-33

  • Ehebruch: Tod durch Steinigung (s. 5Mo 22,22-24)

    • In Off 16,21 wird Jerusalem durch Steinhagel zerstört

  • Israel ist auch eine priesterliche Nation, um IHM vor den Nationen zu dienen (2Mo 19,6; Jes 61,6)

    • Tochter des Priesters soll bei Hurerei verbrannt werden (3Mo 21,9)

    • Dies passiert in Off 17,16 mit Jerusalem

Im Anschluss an die Scheidung und die Bestrafung des hurerischen Israel präsentiert Gott die neue Braut, das himmlische Jerusalem, die Kirche Christi.

Zusammenfassung

  • Die Offenbarung schöpft aus einem reichhaltigen Fundus biblischer Sprache, Bilder und Konzepte

  • Ich halte eine präteristische Auslegung der Offenbarung für am plausibelsten

  • Dem Argument »was hat uns die Offenbarung dann heute noch zu sagen?« würde ich folgendermaßen begegnen

    • Hat uns das AT heute auch nichts mehr zu sagen?

    • Haben uns die Evangelien heute auch nichts mehr zu sagen?

    • So wie die Offenbarung die schon bestehende Sprache und Muster der vorangegangenen Schriften aufgreift, wird die Offenbarung auch für uns 2000 Jahre später noch fruchtbar. Die Offenbarung entwickelt die Muster und Typen weiter.

    • Alle Muster und Typen, die wir in der Bibel finden, wiederholen sich immer wieder in der Geschichte; auch die der Offenbarung.

    • In diesem Sinne hat uns das Buch der Offenbarung – so wie auch die gesamte Bibel – noch sehr viel zu sagen.

  • Folgende Themen werden in der Offenbarung beschrieben (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

    • Endgültiges Gericht der Alten Schöpfung, Gericht an Israel, Zerstörung des Tempels 70 n.Chr.

    • Gott scheidet sich von seiner ehebrecherischen Braut, dem Volk Israel

    • Der Bräutigam, Christus, findet seine Braut

    • Der Christus wird in zweifacher Hinsicht verherrlicht:

      • Seine Vorhersage des Gerichts an Israel tritt ein

      • Die Braut ist die Herrlichkeit des Mannes

    • Mit dem Christus wird das Volk Gottes verherrlicht.

Literaturempfehlungen

Folgende Bücher/Kommentare sind ein guter Einstieg in das Thema Eschatologie/Offenbarung.

Autor Titel Beschreibung

Steve Gregg

Revelation. Four Views: A Parallel Commentary

Eine Kompilation aus verschiedenen Kommentaren, der die vier oben beschriebenen Sichten nebeneinander stellt.

James. B. Jordan

The Vindication of Jesus Christ: A Brief Reader’s Guide to Revelation

Sehr kurzer Abriss einer präteristischen Auslegung der Offenbarung.

Kenneth L. Gentry

He Shall Have Dominion: A Postmillennial Eschatology

Ein sehr umfassendes Buch zum Thema Postmillennialismus und Präterismus. Darin werden fast alle mit diesem Thema zusammenhängenden Fragen diskutiert; auch die Offenbarung, ihr Inhalt und die Datierung wird kurz angesprochen.

Außerdem empfehlenswert ist die Counterpoints-Serie des Zondervan-Verlags. Es gibt Bücher zu den meisten kontroversen Themen (u.a. auch Millennium, Endzeit, Offenbarung, etc.). Dabei werden Theologen verschiedener Richtungen eingeladen, ihren Standpunkt kurz und knapp darzustellen. Zusätzlich schreibt jeder teilnehmende Autor noch eine Erwiderung zu den Beiträgen der anderen Autoren. Diese Bücher bilden eine gute Möglichkeit einen Überblick über verschiedene theologische Positionen zu bekommen.


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