Der Sohn des Menschen kommt auf den Wolken (2) (Vers 30)

Der Sohn des Menschen kommt auf den Wolken (2) (Vers 30)

Tilmann Oestreich, 18.12.2017

Und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen; und dann werden alle Stämme des Landes wehklagen, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit.

— Matthäus 24:30

Rückblick

Zunächst ein kurzer Abriss der zuvor präsentierten Auslegung für diesen Vers:

In der Vision in Daniel 7 sehen wir unter anderem die Himmelfahrt und Krönung Jesu Christi. Dieses Bild greift Jesus in Matthäus 24,30 wieder auf. Die Zerstörung Jerusalems ist demnach der für alle sichtbare Beweis, dass Jesus nun als König auf dem Thron sitzt und herrscht.

Gegen diese Auslegung lassen sich Vorbehalte anführen:

  • Daniel 7 wird alleine aus der Perspektive des Neuen Testaments interpretiert. Für Daniel wäre die Vision dann völlig unverständlich gewesen. Wird das dem Text gerecht? Konnte Daniel gar nichts von dem verstehen, was er sag?

  • Wäre diese Auslegung von Daniel 7 richtig, würde das bedeuten, Daniel hätte in der Vision Gott, den Vater, gesehen. Dies wäre entgegen der Aussage Jesu im Johannesevangelium, dass außer ihm kein Mensch je den Vater gesehen hat (Joh 1,18).

  • Daniel ist nicht der erste Schreiber des Alten Testaments, der den Ausdruck Menschensohn benutzt.

Hesekiel als der Prototyp des Meschensohns

Hesekiel ist der Prophet des Exils. Er wird von Gott im Exil in Babylon in den Dienst berufen und hat sein Buch lange vor Daniel fertiggestellt. Damit ist das Buch Hesekiel älter als das Buch Daniel. Speziell die Vision in Daniel 7 ist erst zu einem späten Zeitpunkt des Exils geschehen.

Insgesamt wird Hesekiel von Gott 91-mal Menschensohn genannt. Wenn Jesus sich als der Menschensohn bezeichnet, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass er sich nicht auf Daniel 7 sondern auf Hesekiel bezieht. Hesekiel definiert den Typus des Menschensohns. Daniel greift in seiner Vision in Kapitel 7 bereits auf diesen von Hesekiel definierten Begriff zurück.

Der Typus Menschensohn bei Hesekiel

Was ist das charakteristische an Hesekiel als dem Menschensohn?

Kapitel 1 bis 3 beschreibt die Berufung Hesekiels als Prophet. Gleichzeitig deutet die Symbolik dieser ersten Vision darauf hin, dass Hesekiel von Gott auch in den Dienst als Hohepriester für das Volk im Exil berufen worden ist.

In Vers 3 erfahren wir, dass Hesekiel der Sohn eines Priesters war. Vers 1 spricht davon, dass er im dreißigsten Jahr berufen wurde. Diese Zeitangabe wird nicht weiter konkretisiert. Was ist hier gemeint?

Eine Möglichkeit wäre das dreißigste Jahr des Exils. In Vers 2 wird jedoch eine Zeitangabe bezogen auf die Wegführung König Jojakins gemacht; das dreißigste Jahr des Exils passt nicht zu dieser Zeitangabe. Daher scheidet diese Möglichkeit aus.

Es könnte auch Hesekiels dreißigstes Lebensjahr gemeint sein. Priester wurden mit 30 Jahren in den Priesterdienst berufen. Diese Zeitangabe würde dann ein Indiz der priesterlichen Aufgabe Hesekiels sein.

Die Vision Hesekiels in Kapitel 1-3 ist ein stark verdichtetes Abbild des Allerheiligsten in der Stiftshütte bzw. dem Tempel.

Hesekiel sieht in seiner Vision den Streitwagen Gottes. Dies ist eine andere Form der Lade. Diesen Streitwagen sieht er auch nochmal in der Vision in Kapitel 8-11 und in Kapitel 43.

An den Ecken des Wagen stehen Vier lebendige Wesen, deren Flügel sich gegenseitig berühren. Dies entspricht den beiden Cherubim auf dem Sühnedeckel, die sich mit ihren Flügeln berühren und so den Thron Gottes berühren. Im Tempel standen später zwei weitere Cherubim hinter der Lade, die mit ihren Flügeln einen Baldachin über dem Thron formen. Hier in der Vision Hesekiels ist diese Anordnung in die Horizontale gekippt.

An jeder Ecke des Wagens befinden sind Räder und über der Lade spannt sich ein Firmament. Dieses Firmament ist in der Stiftshütte in Form des blauen Vorhangs vor dem Allerheiligsten dargestellt. Über dem Firmament sitzt eine Gestalt inmitten von Feuer (Herrlichkeit) auf einem Thron.

Wir sehen hier also mehrere ganz wesentliche Elemente des Allerheiligsten. Unter dem Gesetz war es nur dem Hohepriester einmal im Jahr gestattet, das Allerheiligste zu betreten und die Lade bzw. den Streitwagen zu sehen. Dass Gott Hesekiel hier in Form des Allerheiligsten begegnet ist ein weiteres Indiz dafür, dass Hesekiel in ein hohepriesterliches Amt berufen wird.

Am Ende der Vision in Kapitel 3 sitzt Hesekiel für sieben Tage regungslos am Ufer des Flusses. Dies ist eine Analogie zu den sieben Tagen, die die Priester nach ihrer Weihe am Eingang des Heiligtums verbringen mussten (siehe 3Mo 8,34-35 und 3Mo 10ff). Auch hier eine starke Verknüpfung mit dem priesterlichen Dienst.

Hesekiel durfte wie der Hohepriester nicht öffentlich über den Tod seiner Frau klagen (siehe Hes 24,16 und 3Mo 21,1-3.11). Auch hier wieder eine starke Verknüpfung zum Amt des Hohepriesters.

Abschließend können wir feststellen, dass Hesekiel nicht nur ein Prophet war sondern auch eine Art Hohepriester für das Volk im Exil. Der Hohepriester war der geistliche Führer Israels. Auch diese Verantwortung war Teil dessen, zu was Gott Hesekiel berufen hat.

Jesus als der Größere Hesekiel

Jesus greift den Begriff Menschensohn auf und bezeichnet sich selber so. Damit identifiziert er sich als ein neuer, größerer, vollkommener Hesekiel. Jesus hat Hesekiel im Blick, nicht die Vision Daniels, der selber diesen Begriff von Hesekiel aufgegriffen hat. Es gibt weitere Parallelen in Jesus‘ und Hesekiels Leben.

Jesus wird wie Hesekiel mit 30 Jahren getauft bzw. berufen. Ab diesem Zeitpunkt beginnt sein öffentlicher Dienst als der Messias.

Er verkündet wie Hesekiel eine Botschaft des Gerichts für die mit ihm lebende Generation. Bei Hesekiel finden wir eine Vision hinsichtlich der Zerstörung Jerusalems in den Kapiteln 8-11.

Jesus redet auch vom Gericht der Nationen und davon, dass die Nationen durch die Botschaft des Evangeliums erschüttert werden. Bei Hesekiel finden wir in den Kapiteln 25-32 Gerichtsbotschaften an die Nationen.

Außerdem reden beide von einer Vision der Erneuerung. Bei Hesekiel sehen wir das neue Jerusalem. Jesus redet vom Kommen von Gottes Königreich.

Jesus ist ein neuer und herrlicherer Hesekiel!

Daniel greift den Typus von Hesekiel auf

In Kapitel 7 sieht Daniel einen wie einen Menschensohn. Hier greift Daniel auf Hesekiels Bild des Menschensohnes zurück. Es gibt zwischen der Vision in Daniel 7 und der ersten Vision Hesekiels (Kap. 1-3) einige Parallelen.

Zu Beginn beider Vision sehen die beiden Propheten lebendige Wesen bzw. Tiere. Das bei Hesekiel mit lebendige Wesen übersetzte Wort kann auch einfach mit Tier übersetzt werden. Die Tiere bzw. lebendigen Wesen sind in beiden Visionen Mischwesen aus verschiedenen Tieren mit menschlichen Elementen.

Sowohl Hesekiel als auch Daniel sehen einen Thron. In beiden Fällen ist der Thron von Feuer und Engeln umgeben und in beiden Visionen steht der Thron auf oder bei einem Streitwagen mit Rädern. Auf dem Thron sitzt Jahwe, der Herrscher Israels. (auch: Der Bote Jahwes, den wir aus dem NT kennen: Jesus Christus)

In beiden Visionen gibt es Gerichtsbücher. Hesekiel beschreibt eine Buchrolle, auf der das Gericht gegen die Juden bzw. Jerusalem steht; diese ist geöffnet (Hes 2,8 - 3,3). In den Kapiteln 8-11 beschreibt Hesekiel dann seine Vision des Gerichts über Jerusalem, dass mit der Zerstörung Jerusalems endet. Daniel sieht in den Versen 9-10 den Alten an Tagen auf dem Thron. Das Gericht setzte sich, und Bücher wurden geöffnet (Vers 10b).

Wenn Daniel den Menschensohn bzw. einen wie den Menschensohn vor den Thron kommen sieht, dann sieht er einen Hohepriester nach der Art Hesekiels vor den Thron Gottes kommen. Da Jesus sich in den Evangelien auch als der Neue Hesekiel bezeichnet, können wir hier in Daniel auch weiter das Bild der Himmelfahrt Jesus sehen.

Es gibt aber mit der Wolke eine weitere Symbolik, die in Daniel 7 mitschwingt und die Vision Daniels mit weiteren Bedeutungsebenen auflädt.

Der Große Versöhnungstag als weiterer Hintergrund der Symbolik in Daniel 7

In Leviticus 16 wird der Große Versöhnungstag beschrieben. Im Englischen wird dieser Tag auch als Day of Coverings (=Tag des Zudeckens) bezeichnet. Die Sünden des Volkes wurden zugedeckt. Dieser Aspekt ist für die Symbolik in Daniel 7 wichtig.

Die Zeremonie am Großen Versöhnungstag

Grundsätzlich trägt der Hohepriester im Dienst sein hohepriesterliches Gewand, auf dem er mehrfach in bildhafter Weise die zwölf Stäme Israels trägt. Dies ist Zeichen seiner Autorität und Herrlichkeit. Er ist der geistliche Herrscher und Führer Israels. Zu Beginn des Großen Versöhnungstages legte der Hohepriester dieses Gewand ab und zog sich einfache, leinene Kleider an. Er identifiziert sich auf diese Weise in besonderer Weise mit dem Volk.

Im Zuge der Zeremonie geht der Hohepriester zweimal in das Allerheiligste. Das erste Mal opfert er einen Stier für seine Sünden und bringt dessen Blut zur Bundeslade ins Allerheiligste. Beim zweiten Mal opfert er wieder einen Stier – diesmal für die Sünden des Volkes – und bringt dessen Blut ebenfalls vor Gottes Thron ins Allerheiligste.

Für den Gang ins Allerheiligste gelten folgende Anweisungen:

Und er nehme eine Pfanne voll Feuerkohlen vom Altar, vor dem Herrn, und seine beiden Hände voll wohlriechenden, kleingestoßenen Räucherwerks, und bringe es innerhalb des Vorhangs.

Und er lege das Räucherwerk auf das Feuer vor den Herrn, damit die Wolke des Räucherwerks den Deckel bedecke, der auf dem Zeugnis ist, und er nicht sterbe. Und er nehme vom Blut des Stieres und sprenge mit seinem Finger auf die Vorderseite des Deckels nach Osten; und vor den Deckel soll er von dem Blut siebenmal sprengen mit seinem Finger.

— Leviticus 16,12-14

Der Hohepriester hält in einer Hand eine Pfanne mit Kohle vom Altar und legt auf diese Kohle Räucherwerk. In der anderen Hand hält der Hohepriester eine Schale mit dem Blut des Stieres, welches er dann an die Bundeslade sprengen soll. So geht er vom Vorhof (in der Symbolik der Stiftshütte ist das die Erde) durch das Heiligtum in das Allerheiligste (ein Abbild des Thronraumes Gottes im Himmel). Durch das Räucherwerk auf den Kohlen ist er in eine Wolke von Räucherwerk gehüllt.

Nach den beiden Opfern legt der Hohepriester sein herrliches Gewand wieder an. Er erhält also seine Autorität und Herrschaft zurück.

Einer wie ein Menschensohn kommt in den Wolken

Der Hohepriester steigt also am Großen Versöhnungstag in einer Wolke von der Erde hinauf in das Allerheiligste vor Gottes Thron. Dies ist das Bild, welches wir in Daniel 7 sehen: Einer wie ein Menschensohn – dass ist der Hohepriester – kommt in einer Wolke vor den Thron Gottes in das Allerheiligste. So wie der Hohepriester nach dem Ende der Zeremonie seine Autorität in Gestalt des Gewandes zurück erhält, so wird dem, der wie ein Menschensohn ist, Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum (V14) gegeben.

Die Frage in Bezug auf Daniel 7 lautet dann: Welches der beiden In-den-Himmel-steigen des großen Versöhnungstages sieht Daniel in seiner Vision? Ist es der erste Aufstieg in den Himmel (für die Sünde des Hohepriesters selbst) oder der zweite (für die Sünde des Volkes)?

Da Daniel hier nicht den Menschensohn sondern einen wie ein Menschensohn sieht, spricht dies dafür, dass hier der zweite Teil der Zeremonie im Blick ist. Das Volk, die Heiligen, kommen in Person des Hohepriesters in der Wolke vor Gott in das Allerheiligste. Dies wird untermauert durch die Deutung der Vision, die Daniel ab Vers 16 erhält. Hier werden in den Versen 18, 22 und 25 explizit die Heiligen erwähnt. Vor allem in Vers 18 heißt es:

Aber die Heiligen der höchsten [Örter] werden das Reich empfangen und werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten.

— Daniel 7,18

Die Heiligen werden das (König-)Reich empfangen und besitzen.

So wie das Volk in und mit dem Hohepriester vor Gott getreten ist, kommen hier die Heiligen in und mit dem Hohepriester vor den Thron. Auf dem Thron sehen wir den Bundesgott Jahwe, d.i. Jesus selber. Damit wird auch der Widerspruch aufgelöst, dass niemand je den Vater gesehen hat.

Was bedeutet das für Matthäus 24,30?

Wenn wir den Menschensohn Hesekiel in die Überlegungen mit einbeziehen, ergeben sich zwei Bedeutungsebenen für das von Jesus angekündiget Kommen des Menschensohns auf den Wolken.

Zunächst hat Jesus einen Hohepriester von der Art Hesekiels vor Augen, wenn er von dem Menschensohn redet. Dieser Hohepriester nach der Art Hesekiels ist Jesus selber. Er ist der Größere Hesekiel, der Hohepriester, der für Sein Volk die Sühnung im Allerheiligsten erwirkt. Jesus hat von Gott Herrlichkeit und Herrschaft empfangen. Und dass er diese Macht empfangen hat, stellt er mit der Ankündigung und Ausführung des Gerichts an Israel und Jerusalem eindrucksvoll unter Beweis.

In zweiter Linie sind die Nachfolger Jesu in und mit Ihm in der Wolke vor den Thron getreten und haben Herrlichekeit und Herrschaft und ein Königtum empfangen. Die Heiligen empfangen das Königtum, nachdem der Feind, die alte Kreatur, das abtrünnige Israel zerstört ist. Das erste Jahrhundert bis 70 n. Chr. war vor allem von Christenverfolgungen durch die Juden geprägt. Dem macht Jesus durch die Zerstörung Jerusalems ein Ende. In diesem Sinne verherrlicht er seine Braut – die Gemeinde – und gibt ihr die alleinige Autorität auf dieser Erde.

Vers 30 könnte man mit dieser Auslegung folgendermaßen schreiben:

Und zu dieser Zeit wird das Zeichen erscheinen, dass der Hohepriester im Himmel ist;
und zu dieser Zeit werden alle Stämme des Landes wehklagen,
und sie werden das Volk des Hohepriesters auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit kommen sehen.

— Matthäus 24,30 (eigene Übertragung nach James B. Jordan)