21 denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang [der] Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht [wieder] sein wird. 22 Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, [so] würde kein Fleisch errettet werden; aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt werden. 23 Dann, wenn jemand zu euch sagt: „Siehe, hier ist der Christus!“, oder: „Hier!“, [so] glaubt es nicht. 24 Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wunder tun, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten zu verführen. 25 Siehe, ich habe es euch vorhergesagt.
26 Wenn sie nun zu euch sagen: „Siehe, er ist in der Wüste!“, [so] geht nicht hinaus. „Siehe, in den Gemächern!“, [so] glaubt es nicht. 27 Denn ebenso wie der Blitz ausfährt vom Osten und leuchtet bis zum Westen, so wird die Ankunft des Sohnes des Menschen sein. 28 Wo irgend das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln.
Die Große Trübsal
Wenn Jesus in diesem Abschnitt von der Großen Trübsal spricht, geht es ihm dabei um besonders großes Leid im Sinne von körperlichem Leid durch äußere Gewaltanwendung? Oder meint er Leid im Sinne einer großen Anzahl an Todesopfern oder geht es hier um Leid, dass groß ist im Sinne der relativen Auswirkungen? Schlussendlich könnte es sich auch um großes Leid aufgrund geistlicher Verwerfungen handeln.
Wie schon bei dem Gräuel der Verwüstung hilft uns Lukas mit seinem Bericht auch hier wieder zu einem besseren Verständnis der Worte Jesu. Lukas hat sein Evangelium an die Heiden gerichtet und daher nicht so sehr auf die alttestamentlichen Symbole und Bilder zurückgegriffen. Er hat diese bereits in die Sprache seiner nicht-jüdischen Leser »übersetzt«. Bei ihm lesen wir:
Und sie werden fallen durch [die] Schärfe [des] Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle Nationen; und Jerusalem wird von [den] Nationen zertreten werden, bis [die] Zeiten [der] Nationen erfüllt sind.
Wir lesen hier vom Tod durch das Schwert, Versklavung durch die Nationen und dass Jerusalem durch die Nationen zerstört werden wird. Also geht es auch bei der Großen Trübsal im Kern um die Zerstörung Jerusalems durch die Römer.
Laut Josephus starben im Verlauf des römisch-jüdischen Krieges von 66 n. Chr. bis 70 n. Chr. etwa 1,1 Millionen Juden und weitere 100.000 Juden wurden in die Sklaverei verschleppt. Aufgrund eines dadurch entstehenden Überangebots, brachen die Preise für Sklaven im Mittelmeerraum ein.
Gegenwartsbezug
Ein weiterer Hinweis darauf, dass mit der Großen Trübsal nicht ein Ereignis am Ende der Zeit gemeint ist, das auch für uns noch in der Zukunft liegt, sondern ein Ereignis im ersten Jahrhundert, ist der Gegenwartsbezug, den Jesus in seiner Aussage selber herstellt.
denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang [der] Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht [wieder] sein wird.
Der Kontext dieser Aussage über die Große Drangsal oder Trübsal ist die Ankündigung der Zerstörung des Tempels und die Aussage, dass dies innerhalb einer Generation eintreten wird. In dem oben zitierten Vers verortet Jesus diese Trübsal ebenfalls im ersten Jahrhundert, wenn er sagt, dass es bis jetzt, also bis zu seinen Lebzeiten, kein vergleichbares Ereignis gegeben hat. Diese Aussage macht am meisten Sinn, wenn das angesprochene Ereignis relativ zeitnah eintritt und nicht erst Jahrtausende später.
Die prophetische Hyperbel als Stilmittel
Die Hyperbel ist ein rhetorisches Stilmittel der Übetreibung und wird in der Bibel oft genutzt, vor allem auch im Zusammenhang mit prophetischen Aussagen. Mit der Aussage über die Große Trübsal knüpft Jesus an die Rhetorik der alttestamentlichen Propheten an. Jesus kündigt eine große Drangsal an, wie sie seit seit Anfang [der] Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht [wieder] sein wird. Wenn wir in das Alte Testament schauen, finden wir dort mehrere sehr ähnliche Aussagen:
Und die Heuschrecken kamen herauf über das ganze Land Ägypten und ließen sich im ganzen Gebiet Ägyptens nieder, in gewaltiger Menge; vor ihnen sind nicht derart Heuschrecken gewesen wie diese, und nach ihnen werden nicht derart sein.
Aussage über die Heuschreckenplage
Und es wird ein großes Geschrei sein im ganzen Land Ägypten, wie nie gewesen ist und wie nicht mehr sein wird.
Aussage über die letzte Plage
Wehe, denn groß ist jener Tag, ohnegleichen, und es ist eine Zeit der Drangsal für Jakob! Doch er wird aus ihr gerettet werden.
Prophetie über die babylonische Gefangenschaft
Und ich will an dir tun, was ich nicht getan habe und was ich nicht wieder tun werde, um aller deiner Gräuel willen.
Prophetie über die babylonische Gefangenschaft
Und er hat seine Worte erfüllt, die er über uns und über unsere Richter geredet hat, die uns richteten, indem er ein großes Unglück über uns brachte, so dass unter dem ganzen Himmel keines geschehen ist wie dasjenige, das an Jerusalem geschehen ist.
Prophetie über die babylonische Gefangenschaft
Gerade in Bezug auf die Plagen, mit denen Gott die Ägypter geschlagen hat, und in Bezug auf die babylonische Gefangenschaft Israels finden wir mehrfach die Aussage, dass es sich um besonders schwere Drangsale gehandelt hat. Jesus bedient sich hier einer Sprache, die seinen Hörern vertraut gewesen sein muss.
Wenn man alle diese Aussagen wortwörtlich versteht, kommt man zwangsweise in Widersrpüche. Denn über verschiedene Ereignisse wird behauptet, sie seien so schlimm, wie nichts zuvor oder danach Geschehenes. Es geht also bei diesen Aussagen – auch bei der Aussage Jesu – nicht um eine Absolutaussage, die die Schwere des Gerichtes quantifizieren soll, sondern es geht darum, die Härte des Gerichtes durch ein rhetorisches Stilmittel zu unterstreichen.
Der Bund zwischen Gott und Israel steht im Fokus der Rede Jesu und der angekündigten Ereignisse. Der Tempel und das damit verbundene Opfersystem sind die zentralen Bestandteile des Alten Bundes, in denen sich die Bundesbeziehung Gottes zu seinem Volk Israel widerspiegelt. Die bis heute unwiederbringliche Zerstörung des Tempels und das Ende des Opferkults ist ein ganz extremer Umbruch in der Geschichte des Volkes Israel. Dies betrübt die Juden bis heute. Insofern haben die Juden – gerade auch die Zeitgenossen Jesu im ersten Jahrhundert – die Ereignisse des römisch-jüdischen Krieges tatsächlich als äußerst schwere Schicksalsschläge empfunden.
Ein Zeuge dessen ist Josephus. Obwohl er kein Christ war, hat er sehr klar gesehen und formuliert, dass es sich nicht um normale Ereignisse handelt, sondern die Juden hier Ziel außergewöhnlicher Ereignisse wurden.
Der Krieg der Judäer gegen die Römer, der an Bedeutung unter allen Kriegen zwischen den Städten oder Völkern nicht nur unserer Zeit, sondern auch vergangener Tage seinesgleichen sucht, ist schon wiederholt beschrieben worden.
Josephus
Denn von allen Städten unter der Oberhoheit der Römer hatte keine einen so großen Wohlstand erreicht wie unsere, keine aber stürzte auch in eine solche Tiefe des Unglücks hinab. Ja, kein Mißgeschick aller Zeiten scheint mir mit dem der Judäer vergleichbar zu sein. Daß kein Fremder die Schuld daran trägt, ist es, was es mir unmöglich macht, meiner Wehmut Herr zu werden.
Josephus
Die Frevel der Tyrannen im einzelnen zu schildern, ist unmöglich; darum kurz gesagt: Keine Stadt hat je ähnliches auszustehen gehabt, und kein Geschlecht, solange die Welt steht, war erfinderischer in Werken der Bosheit. Zuletzt fluchten sie dem Volk der Hebräer, um gegen Fremde weniger ruchlos zu erscheinen, und gaben sich damit selbst als das zu erkennen, was sie waren: Sklaven, zusammengelaufenes Gesindel und der Abschaum des Volkes. Sie waren es, die die Stadt zerstörten: Sie nötigten den Römern gegen deren Willen einen so traurigen Sieg auf und schleppten sozusagen das zögernde Feuer in den Tempel hinein. Ohne Schmerz, ohne Träne sahen sie ihn von der oberen Stadt aus in Flammen aufgehen.
Josephus
Das Gericht Gottes
Warum nun kündigt Jesus dem Volk Israel ein solch schweres Gericht mit solch drastischen Worten an?
Israel steht seit dem Beginn seiner Geschichte in einem Bund mit Gott. Dieser Bund beinhaltete Verheißungen aber auch Pflichten. Aber das Volk hatte diesen Bund mit Gott anhaltend gebrochen. Davon lesen wir immer wieder im Alten Testament. Die Generation zur Zeit Jesu machte nun das Maß der Sünden ihrer Väter voll, indem sie den Sohn Gottes selbst verwarfen und in hinrichteten. Dies thematisiert Jesus zum Beispiel in dem Gleichnis von den Pächtern des Weinbergs (Mt 21,33-46 ;Mk 12,1-12; Lk 20,9-19). Aber auch in den Wehe euch gegenüber den Pharisäern in Matthäus 23 kündigt Jesus genau das an: und ihr – macht das Maß eurer Väter voll! (Vers 32).
Die Strafe auf diese anhaltende Halsstarrigkeit, die mit der Hinrichtung Jesu am Kreuz ihren Höhepunkt erreichte, hat Jesus ebenfalls immer wieder angekündigt. Zum Beispiel auch in dem Gleichnis von den Pächtern des Weinbergs: Er wird jene Übeltäter auf schlimme Weise umbringen […]. Die Römer waren Gottes Werkzeug, um dieses Gericht auszuführen. Viele Juden starben in dem Krieg mit den Römern und Jerusalem und der Tempel wurden vollständig zerstört.
In Deuteronomium 28 finden wir den mit dem Bund verbundenen Segen und die Flüche, falls Israel den Bund bricht. Diese Flüche sind mehrstufig und einige dieser Flüche haben Israel bereits während ihrer langen Geschichte getroffen (z.B. das Exil). Aber aufgrund der völligen Verstocktheit und weil sie jetzt auch den Sohn verwerfen, treffen nun all Bundesflüche bis zum Letzten ein.
Vergleich mit der Flut zur Zeit Noahs
Später in der Rede wird die Flut zur Zeit Noahs noch explizit erwähnt (Verse 38 und 39). In dieser wurde die gesamte Erdbevölkerung mit Ausnahme einer Familie vernichtet. Relativ gesehen gab es bisher keine drastischere Katastrophe. Dies spricht ebenfalls dafür, dass es hier in Matthäus 24 nicht ein besonders schweres irdisches Leid sondern um die Umwälzungen hinsichtlich der Bundesordnungen geht.
Fazit
Weil Israel den Sohn Gottes hingerichtet und damit Gott verworfen hat, ist das Maß der Sünde Israels voll. Dies hat Jesus in bis Kapitel 23 geschilderten Ereignissen deutlich angekündigt. Die Große Trübsal ist das daraus resultierende Gericht Gottes, in dem er Israel mit den bereits in Deuteronomium angekündigten Bundesflüchen schlägt. Dieses Gericht hat Gott durch die römischen Armeen 70 nach Christus ausgeführt und es endete mit der völligen Zerstörung Jerusalems und des Tempels.
Falsche Christusse
In Vers 11 hatte Jesus bereits falsche Propheten angekündigt. Über die Erfüllung dieser Vorhersage hatte ich bereits in der zweiten Einheit geschrieben. Hier redet Jesus jetzt von falschen Christussen; also Menschen, die nicht nur vorgeben, im Namen und in der Vollmacht Jesu aufzutreten, sondern, die sich selbst als Messias – als Erlöser – präsentieren. Josephus berichtet an verschiedenen Stellen in seinen beiden Werken von Juden, die in der Zeit zwischen 30 und 70 n.Chr. mit einem messianischen Anspruch aufgetreten sind und ihre Nachfolger ins Verderben geführt haben.
Infolge des Treibens der Räuber war die ganze Stadt ein Schauplatz der nichtswürdigsten Verbrechen. Gleichzeitig traten auch Gaukler und Betrüger auf und beredeten die Menge, ihnen in die Wüste zu folgen, wo sie mit Gottes Beistand offenbare Zeichen und Wunder tun würden. Viele glaubten ihnen, mussten aber für ihren Unverstand schwer büssen, da Felix sie zurückholen und hinrichten liess. Um diese Zeit kam auch ein Mensch aus Ägypten nach Jerusalem, der sich für einen Propheten ausgab und das gemeine Volk verleiten wollte, mit ihm auf den Ölberg zu steigen, der in einer Entfernung von fünf Stadien der Stadt gegenüber liegt. Dort, sagte er, wolle er ihnen zeigen, wie auf sein Geheiss die Mauern Jerusalems zusammenstürzten, durch welche er ihnen dann einen Eingang in die Stadt bahnen würde. Als Felix hiervon Kunde erhielt, liess er die Besatzung alarmieren, machte mit einer starken Abteilung von Reitern und Fusssoldaten einen Ausfall aus Jerusalem und griff den Ägypter und dessen Anhänger an. Von den letzteren fielen viertausend, und zweihundert wurden gefangen genommen; der Ägypter selbst aber entkam aus dem Treffen und wurde unsichtbar.
Josephus
Da die Römer der Ansicht waren, dass es nach der Einäscherung des Tempels keinen Sinn mehr habe, die umliegenden Gebäude zu schonen, steckten sie auch alles übrige in Brand, nämlich die Reste der Hallen und alle Tore mit Ausnahme des Östlichen und des südlichen, die sie indes später gleichfalls zerstörten. Hierauf verbrannten sie auch die Schatzkammern, in denen ungeheure Summen Geld, große Mengen Kleider und andere Kostbarkeiten, kurz, die gesamten Schätze der Judäer aufgehäuft waren, da die Reichen dort ihr Vermögen untergebracht hatten. Schließlich wandten sie sich nach der noch unversehrten Halle des äußeren Tempelhofes, in die sich Frauen und Kinder aus dem Volk und ein zusammengewürfelter Haufen, insgesamt etwa 6000 Menschen, geflüchtet hatten. Bevor der Caesar wegen dieser Leute einen Beschluß faßte oder den Offizieren einen Befehl erteilte, zündeten die Soldaten in ihrer Wut die Halle an, so daß die einen mitten in den Flammen umkamen, die anderen getötet wurden, während sie daraus hervorstürzten; von der ganzen Menge wurde keine Seele gerettet. Die Schuld an ihrem Untergang trug übrigens ein falscher Prophet, der an jenem Tage den Bewohnern der Stadt verkündet hatte, der Gott heiße sie zum Tempel hinaufsteigen, wo sie die Zeichen ihrer Rettung schauen würden. Die Tyrannen hatten nämlich damals zahlreiche Propheten unter das Volk gesteckt, damit sie mahnten, es solle der Hilfe des Gottes gewärtig sein – einmal, um dem Überlaufen zu wehren und die, die keine Furcht oder Vorsicht kannten, durch Hoffnung zum Bleiben zu bewegen. Im Unglück lässt sich der Mensch leicht überreden; und wenn gar ein Betrüger ihm Befreiung von drückendem Elend vorspiegelt, geht der Leidende ganz in Hoffnung auf.
Josephus
Wie ein Blitz
Mit dem Bild des Blitzes gibt es verschiedene Assoziationen, auf die Jesus abzielen könnte:
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Die Sichtbarkeit eines Blitzes.
-
Die Schnelligkeit eines Blitzes.
-
Das angsteinflößende eines Blitzes.
-
Die Zerstörungskraft eines Blites.
Daraus ergeben sich auch verschiedene Auslegungsansätze bezüglich dieser Aussage Jesu.
Zum einen könnte Jesus das Bild des Blitzes als Gegenpol zu den falschen Christussen setzen. Er warnt vor den falschen Christussen, die die Erwartung einer sichtbaren Erscheinung des Messias ausnutzen. Aber der wahre Christus Jesus wird im Rahmen der Ereignisse um die Zerstörung des Tempels nicht persönlich und sichtbar kommen. Denn wenn dies so wäre, würde man sein Kommen ganz deutlich und auch weithin sichtbar wahrnehmen. Bei diesem Ansatz wird auf die Attribute sichtbar und schnell abgehoben.
Auf der anderen Seite kann das Bild des Blitzes auch als Ausdruck des Gerichts-Kommens gesehen werden. Jesus redet hier von seinem Kommen. Das griechische Wort, das er hier verwendet, ist parousia. Dieses bedeutet soviel wie Manifestation oder einfach nur Gegenwart.
Als Jesus vor dem Sanhedrin – dem Hohen Rat – steht, kündigt er ebenfalls sein Kommen an:
Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Sohn des Menschen zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.
Jesus kündigt auch hier an, dass die Mitglieder des Hohen Rates ihn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels sehen würden. Hier verwendet Jesus dieselbe Sprache wie Jesaja in seiner Prophete gegen Ägypten:
Ausspruch über Ägypten. Siehe, der Herr fährt auf schneller Wolke und kommt nach Ägypten. Und die Götzen Ägyptens beben vor ihm, und das Herz Ägyptens zerschmilzt in seinem Innern.
Hier redet Jesaja vom Kommen des Herrn zum Gericht über Ägypten. Dies wird im Bild als auf schneller Wolke fahren bezeichnet. Aber hier geht es definitiv nicht um ein sichtbares, persönliches Kommen Gottes. Gleichermaßen verwendet Jesus dieses Bild. Er kündigt ein Gerichtskommen wie damals über Ägypten an. Aber diesmal trifft es das Volk Israel selbst. Und mit diesem Gericht, wird für alle offenbar – es manifestiert sich – , dass Jesus zur Rechten Gottes sitzt und als König regiert.
Jesu Herrschaft wird sich im Gericht über Jerusalem offenbaren, manifestieren. Dies greift das Bild des Blitzes auf. In diesem Fall wird verstärkt auf die Attribute Angst und Zerstörung abgehoben.
Vom Osten bis zum Westen
Die spannende Frage ist, warum wird hier eine solche Richtungsangabe gemacht wird. An dieser Stelle will ich ein paar Denkanstöße geben, habe aber noch keine abschließende Antwort auf diese Frage gefunden.
In der Regel symbolisiert eine Bewegung von Osten nach Westen in der Symbolsprache der Bibel eine Bewegung hin zu Gott. Dies erscheint aber in diesem Kontext nicht unbedingt ein sinnvoller Ansatz.
Es gibt in den Evangelien eine weitere Stelle, in der von einem Blitz im Zusammenhang mit einer Richtungsangabe gesprochen wird. Auch bei dieser Stelle geht es um ein Gericht. Wir finden sie im Lukasevangelium:
[Jesus] sprach aber zu ihnen: Ich schaute den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.
Als letzten Gedanken noch ein konkreter historischer Fakt. Laut den Aufzeichnungen des Josephus näherten sich die römischen Armeen Jerusalem von Osten her. Die zerstörende Macht bewegte sich also von Osten nach Westen und kam zum Gericht über Jerusalem. Dies würde zum Bild des Blitzes im Sinne des Gerichts passen.
Das Sammeln der Adler
Das hier verwendete Wort kann sowohl mit Geier als auch mit Adler übersetzt werden. Im Alten Testament wird das Bild des Adlers mehrfach verwendet, um ein Gericht an Israel durch eine fremde Nation zu beschreiben. Unter anderem finden wir dies auch in den Bundesflüchen in Deuteronomium:
Der Herr wird aus der Ferne, vom Ende der Erde her, eine Nation gegen dich herbeiführen, so wie der Adler fliegt, eine Nation, deren Sprache du nicht verstehst; […] Und sie wird dich belagern in allen deinen Toren, bis deine Mauern, die hohen und festen, auf die du vertraust, in deinem ganzen Land gefallen sind; und sie wird dich belagern in allen deinen Toren, in deinem ganzen Land, das der Herr, dein Gott, dir gegeben hat.
Auch bei den Propheten finden wir das Thema Adler und Gericht durch eine fremde Nation verknüpft:
Die Posaune an deinen Mund! Wie ein Adler [stürzt] er auf das Haus des Herrn, weil sie meinen Bund übertreten und gegen mein Gesetz gefrevelt haben.
Denn siehe, ich erwecke die Chaldäer, das grimmige und ungestüme Volk, das die Breiten der Erde durchzieht, um Wohnungen in Besitz zu nehmen, die ihm nicht gehören. Es ist schrecklich und furchtbar; sein Recht und seine Hoheit gehen von ihm aus. Und schneller als Leoparden sind seine Pferde und rascher als Abendwölfe; und seine Reiter sprengen daher, und seine Reiter kommen von fern, fliegen herbei wie ein Adler, der zum Fraß eilt.
Insofern können wir festhalten, dass Jesus hier an die den Juden bekannte Sprache der Mosebücher und der Propheten anknüpft und seiner Generation ein Gericht durch eine fremde Nation ankündigt.
Interessanterweise kam es im Falle des Gerichts im ersten Jahrhundert zu einer durchaus auch wörtlichen Erfüllung bei dieser Prophetie, denn der Adler war das Feldzeichen der Römer. Auch davon lesen wir bei Josephus:
Nun entschloß sich Vespasian, selbst in Galiläa einzufallen. Er brach deshalb von Ptolemais auf, indem er das Heer nach römischer Sitte sich in Marsch setzen ließ. […] Hinter ihnen wurden die Feldzeichen getragen, in ihrer Mitte der Adler, den bei den Römern jede Legion an ihrer Spitze führt. Als König und stärkster aller Vögel ist er ihnen ein Sinnbild der Herrschaft und. scheint ihnen den Sieg über jeden Feind, gegen den sie zu Felde ziehen, zu verkünden.
Josephus
Israel bzw. Jerusalem ist geistlich tot. Davon gibt das Verhalten der Zeitgenossen Jesu uns ein beredtes Zeugnis. Jesus kündigt an, dass der Tempel eine geistliche Öde wird, da Gott sein Haus verlässt (Mt 23,38). Der Geist Gottes ist nicht mehr mit diesem Volk. Israel ist tot und das Urteil ist ausgesprochen.
Damit gibt das Bild Jesu durchaus Sinn: Die Adler stürzen sich auf den Leichnam bzw. das Aas Jerusalems. Auch dieses Bild finden wir bereits in den Bundesflüchen in Deuteronomium:
Und dein Leichnam wird allen Vögeln des Himmels und den Tieren der Erde zum Fraß werden, und niemand wird sie wegscheuchen.
Anhang A: Der Bruderkrieg als Drangsal
Während des römisch-jüdischen Krieges sind tatsächlich äußerst grausame Dinge passiert. Auch dieser Perspektive ist die Wortwahl Jesu durchaus angemessen. In der belagerten Stadt kam es auch zum Bruderkriegt. Verschiedene Parteiungen der Juden bekämpften sich zu allem Überfluss gegenseitig mit außerordentlicher Grausamkeit. Josephus berichtet:
Mit der Möglichkeit, aus der Stadt zu entkommen, war den Judäern jegliche Aussicht auf Rettung abgeschnitten, und die Hungersnot, die immer schrecklicher wurde, raffte das Volk häuser- und familienweise dahin. Die Dächer lagen voll entkräfteter Frauen und Kinder, die Gassen lagen voll toter Greise, Knaben und Jünglinge, krankhaft angeschwollen, wankten wie Gespenster über die öffentlichen Plätze und sanken Zu Boden, wo die Hungerseuche sie ergriff. Ihre Angehörigen Zu bestatten, vermochten die Entkräfteten nicht mehr; die noch Rüstigeren aber scheuten sich davor wegen der Menge der Toten und der Ungewissheit ihres eigenen Schicksals. Viele starben auf den Leichen, die sie beerdigen wollten, viele schleppten sich zu den Grabstätten, noch ehe das Verhängnis sie ereilte. Keine Träne, keine Wehklage begleitete dieses Elend: Alles Gefühl hatte der Hunger getötet. Mit trockenen Augen und weit geöffnetem Munde starrten die langsam Dahinsterbenden auf die, die vor ihnen zur Ruhe gekommen waren. Tiefes Schweigen und eine bange Todesnacht lagen über der Stadt. Fürchterlicher aber als alles dies waren die Räuber: Gleich Totengräbern drangen sie in die Häuser ein, plünderten die Leichen, rissen ihnen die Verhüllung weg und gingen Gelächter hinaus oder erprobten die Spitzen ihrer Dolche an den entseelten Körpern; sie durchbohrten Gefallene, noch lebten, um die Schärfe der Klinge zu prüfen. Andere dagegen, die um den Gnadenstoß baten, überließen sie höhnisch dem Hunger. Die Sterbenden blickten starren Auges zum Tempel hinauf, wo die Empörer lebend zurück- blieben. Anfangs hatten diese noch dafür gesorgt, daß die Toten auf öffentliche Kosten begraben wurden, weil sie den Geruch nicht ertragen konnten; später aber, als der Leichen zu viele wurden, warf man sie einfach von den Mauern in die Schluchten hinab.
Josephus
Eine Frau von jenseits des Jordans, Maria mit Namen, Tochter Eleazars aus dem Dorfe Bethezuba (das Wort bedeutet: Ysop-Haus), ausgezeichnet durch Geburt und Reichtum, war mit der übrigen Menge nach Jerusalem geflohen, wo sie in die Belagerung geriet. Ihr sonstiges Vermögen, das sie aus Peräa in die Stadt mitbrachte, hatten ihr die Tyrannen bereits weggenommen, und die ihr noch verbliebenen Kleinodien sowie Nahrungsmittel, die ausfindig zu machen waren, raubten ihr deren Anhänger, die Tag für Tag in ihr Haus stürzten. Große Erbitterung bemächtigte sich infolgedessen der Frau, und oft brachte sie mit Schmähungen und Verwünschungen die Räuber gegen sich auf. Als aber keiner sie aus Zorn oder Mitleid tötete und sie es müde war, immer nur Nahrung für andere zu suchen, was jetzt auch erfolglos war, ihr der Hunger in den Eingeweiden und noch heftiger ihr Zorn brannte, schritt sie zu einem Akt, der wider alle Natur war. Sie ergriff ihr Kind, einen Säugling, und sprach: »Armer Kleiner! In Krieg, Hunger und Aufruhr – für wen soll ich dich da erhalten? Bei den Römern erwartet uns Sklaverei, falls sie uns überhaupt am Leben lassen; stärker als Sklaverei aber ist der Hunger, und die Empörer sind grausamer als beides. So komm, werde mir Speise, den Tyrannen ein Rachegeist, den Lebenden eine Fabel, wie sie allein fehlt, um das Elend der Judäer voll zu machen!« Mit diesen Worten erschlägt sie ihr Kind, brät es und verzehrt die eine Hälfte; die andere bedeckt und verwahrt sie. Im Nu aber sind die Empörer wieder da und drohen ihr, wie sie den fluchwürdigen Braten riechen, sie augenblicklich zu ermorden, wenn sie nicht zeige, was sie zubereitet habe. Daraufhin deckt sie mit den Worten, sie habe noch ein schönes Stück aufgespart, die Reste ihres Kindes auf. Schauder und Entsetzen ergriff die Räuber, und sie standen bei dem Anblick wie festgewurzelt. Maria fuhr fort: »Das ist mein leibliches Kind und das mein Werk. Eßt, denn auch ich habe gegessen; seid nicht weichherziger als eine Frau, nicht gefühlvoller als eine Mutter! Achtet ihr aber die Gesetze, und graut euch vor meinem Opfer – gut, so will ich euren Anteil gegessen haben, und auch der Rest verbleibe mir.« Zitternd schlichen die Empörer hinaus, dieses eine Mal als Feiglinge, und nur ungern ließen sie der Mutter dieses Mahl. Bald verbreitete sich das Gerücht von diesem Gräuel in der ganzen Stadt, und jeder schauderte, wenn er sich die Tat vorstellte, als hätte er sie selbst verübt. Die Hungernden aber drängten sich zum Tode und priesen die Vorangegangenen glücklich, dass sie solchen Jammer nicht mehr gesehen und gehört hätten.
Josephus
Auch hier sehen wir das Eintreffen der Bundesflüche aus Deuteronomium 28:
Und in der Belagerung und in der Bedrängnis, womit dein Feind dich bedrängen wird, wirst du die Frucht deines Leibes essen, das Fleisch deiner Söhne und deiner Töchter, die der Herr, dein Gott, dir gegeben hat.