Das Gräuel der Verwüstung (Verse 15-20)

Das Gräuel der Verwüstung (Verse 15-20)

Tilmann Oestreich, 16.01.2017

15 Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, beachte es –, 16 dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen; 17 wer auf dem Dach ist, steige nicht hinab, um die [Sachen] aus seinem Haus zu holen; 18 und wer auf dem Feld ist, kehre nicht zurück, um sein Oberkleid zu holen.

19 Wehe aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen!

20 Betet aber, dass eure Flucht nicht im Winter stattfinde noch am Sabbat;

— Matthäus 24,15-20

Der Kontext

Jesus kündigt den Jüngern die Zerstörung des Tempels an. Daraufhin fragen die Jünger fragen, wann dies passieren wird und an welchen Zeichen sie die Erfüllung dieser Verheißung erkennen können. Jesus beantwortet Ihnen diese Frage. Er sagt, dass diese Generation die angekündigten Ereignisse noch erleben wird (V34).

Es geht um ein lokales Ereignis in Palästina

So wie die meisten Christen heutzutage, habe auch ich gelernt, dass es in dieser Rede Jesu um die Endzeit vor seinem Zweiten Kommen zum Gericht geht. Doch wenn wir uns die Aussagen Jesu im Detail anschauen, ergibt diese Sichtweise keinen Sinn.

Jesus' zweites Kommen zum Gericht wird ein Ereignis sein, das weltweite Relevanz hat. Für die gesamte Erde und alle Menschen wird damit das Letzte Gericht eingeläutet. Welchen Sinn hätte in diesem Sinn Jesu Aufforderung, dass die Menschen in Judäa in die Berge fliehen sollen (V16)? Und selbst wenn man den Ortsbezug Judäa an dieser Stelle ignoriert, bleibt die Frage, welchen Sinn es machen würde, sich bei Jesu Zweitem Kommen in den Bergen zu verstecken? Jede Zunge wird dann bekennen, jedes Knie sich beugen. Flucht ist dann sinnlos.

Jesus macht hier also ganz deutliche, dass es bei dem, was er sagt, um Ereignisse in Judäa handelt. Wenn das Gericht kommt, sollen sich die Menschen in Judäa in den Bergen in Sicherheit bringen. Diese Aussage steht so auch in allen drei Parallelstellen.

In Mattäus und Markus fordert Jesus die Menschen Judäas außerdem auf, nicht mehr von ihren Dächern herabzusteigen, um ihr Hab und Gut aus den Häusern zu holen, sondern direkt zu fliehen (V17). Was hat es damit auf sich? Der Baustil in der Region des Nahen Ostens waren Häuser mit Flachdach. Man konnte in den Städten dieser Region mühelos größere Strecken auf den Hausdächern zurücklegen. Man konnte also auf den Dächern aus der Stadt fliehen. Wenn der Zeitpunkt des Gerichts da ist, bleibt keine Zeit mehr für Vorkehrungen für die Flucht. Die Menschen müssen schnellstmöglich aus der Stadt heraus und in den Schutz der Berge.

Als nächstes lesen wir von der Aufforderung, dass die Jünger beten sollen beten, dass die Flucht nicht an einem Sabat stattfindet (V20). Auch dies ist ein weiteres Indiz, dass sich die Prophetie speziell an die Juden richtet. Denn für wen sonst wäre diese Aussage sonst relevant gewesen? Aber inwieweit wäre für Juden die Flucht am Sabbat ein Problem gewesen? Zum einen erlaubten die Sabbatvorschriften einem Juden nur ein bis zwei Meilen Fußmarsch am Sabbattag. Wobei an dieser Stelle angemerkt sei, dass es sich hierbei nicht um einen Befehl Gottes in der Thora handelt. Dies ist einer der Zusätze den die Pharisäer um das Gesetz herum gebaut haben. Ein weiteres Problem einer Flucht am Sabbat wäre gewesen, dass am Sabbat die Tore Jerusalems geschlossen wurden und geschlossen blieben. Es war also nicht möglich, die Stadt zu verlassen (vgl. Neh 13,19.22).

Der Gräuel der Verwüstung (V15)

Was versteht die Bibel unter »Gräuel«?

Der Ausdruck Gräuel der Verwüstung findet sich im AT bei Daniel in Kapitel 9, Vers 27b. Die Übersetzungen variieren in ihrer Aussage durchaus beträchtlich:

Und wegen der Beschirmung der Gräuel [wird] ein Verwüster [kommen], und zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden.

— Elberfelder 2003

und an ihrer Stelle wird der Greuel der Verwüstung aufgestellt sein, und zwar so lange, bis die festbeschlossene Vernichtung sich über die Verwüstung ergießt.

— Menge Bibel

And the abomination of desolation
will be on a wing of the temple
until the decreed destruction
is poured out on the desolator.

— Holman Christian Standard Bible

and upon the wing of abominations shall come one that maketh desolate; and even unto the full end, and that determined, shall wrath be poured out upon the desolate.

— American Standard Version

and for the overspreading of abominations he shall make it desolate, even until the consummation, and that determined shall be poured upon the desolate.

— King James Version

Die Bedeutung dieser Stelle ist sehr umstritten. Dies zeigt sich auch daran, wie sehr sich die einzelnen Übersetzungen voneinander unterscheiden. Dies soll hier (noch) nicht Thema sein. Das hier im Hebräischen verwendete Wort für Verwüstung wird im AT insgesamt 28 mal verwendet und steht meistens im Zusammenhang mit Götzendienst​[1].

Die klassisch futuristische Sicht

Nach der klassisch futuristischen Sicht tritt in der Zukunft am Ende der Zeit der Antichrist auf, geht in den Tempel und stelle dort ein Bild von sich auf. Dies ist eine natürlich extrem stark verkürzte Zusammenfassung dieser Position.

Hiergegen spricht, dass der Antichrist in den Evangelien an keiner Stelle erwähnt wird. Die Jünger und Jesu Zeitgenossen werden zum Teil Zeugen dieser Ereignisse sein. Dies sagt Jesus in Vers 34 ganz deutlich: diese Generation.

Demgegenüber gab es ein ähnliches Szenario – nämlich Götzendienst im Tempel – tatsächlich während des jüdisch-römischen Krieges und dann nach der Einnahme und Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Dies werde ich weiter unten ausführen.

Ist mit dem »heiligen Ort« der Tempel gemeint?

In Vers 15 lesen wir von dem Gräuel der Verwüstung an heiligem Ort. Der heilige Ort wird in der Regel als der Tempel verstanden. Jesus warnt uns nach dieser Auffassung vor dem Gräuel der Verwüstung im Tempel. Aber muss die Aussage tatsächlich so verstanden werden, dass mit dem heiligen Ort der Tempel gemeint ist?

Im Griechischen stehen dort die Worte hagios topos, was in den meisten Übersetzungen mit heiliger Ort wiedergegeben ist. Topos bezieht sich ganz allgemein auf einen Ort, z.B. in der Formulierung wüster Ort. In diesem Wort steckt also absolut keine Indikation in Richtung des Tempels.

Interessanterweise überliefert Lukas die Aussage Jesus ganz anders. Während Matthäus die Aussage Jesu mit Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel […​] stehen seht an heiligem Ort schreibt Lukas an dieser Stelle Wenn ihr aber Jerusalem von Heerlagern umzingelt seht. Statt heiliger Ort spricht Lukas ganz konkret von Jerusalem und hat dabei offensichtlich nicht den Tempel im Speziellen im Blick sondern die Stadt insgesamt.

Auch an anderen Stellen der Bibel wird von Jerusalem als heiliger Ort bezeichnet:

Und die Obersten des Volkes wohnten in Jerusalem. Und das übrige Volk warf Lose, um je einen von zehn kommen zu lassen, damit er in Jerusalem, der heiligen Stadt, wohne, die neun [anderen] Teile aber in den Städten [blieben]. […​] Alle Leviten in der heiligen Stadt waren 284.

— Nehemia 11,1.18 (Hervorhebungen hinzugefügt)

denn nach der heiligen Stadt nennen sie sich

— Jesaja 48,2a (Hervorhebung hinzugefügt

Wache auf, wache auf; kleide dich, Zion, in deine Macht! Kleide dich in deine Prachtgewänder, Jerusalem, du heilige Stadt!

— Jesaja 52,1 (Hervorhebung hinzugrfügt)

Und sie werden alle eure Brüder aus allen Nationen dem Herrn als Opfergabe bringen, auf Pferden und auf Wagen und auf Sänften und auf Maultieren und auf Dromedaren, zu meinem heiligen Berg, nach Jerusalem, spricht der Herr, so wie die Kinder Israel das Speisopfer in einem reinen Gefäß zum Haus des Herrn bringen.

— Jesaja 66,20 (Hervorhebung hinzugefügt)

Herr, nach allen deinen Gerechtigkeiten lass doch deinen Zorn und deinen Grimm sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, deinem heiligen Berg! Denn wegen unserer Sünden und der Ungerechtigkeiten unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk allen denen zum Hohn geworden, die uns umgeben. […​] 70 Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben.

— Daniel 9,16.24 (Hervorhebungen hinzugefügt

Und ihr werdet erkennen, dass ich, der Herr, euer Gott bin, der auf Zion wohnt, meinem heiligen Berg. Und Jerusalem wird heilig sein, und Fremde werden es nicht mehr durchziehen.

— Joel 4,17 (Hervorhebung hinzugefügt)

Alle diese Stellen sind aus dem Alten Testament. Dies sind die Schriften, mit denen die Jünger und ihre Zeitgenossen vertraut waren. Dies war das bis zur Zeit Jesu das geoffenbarte Wort Gottes. Insofern war es den Jüngern Jesu vertraut, nicht nur den Tempel alleine sondern die ganze Stadt Jerusalem als heiligen Ort zu sehen. Insofern sollten wir nicht überrascht sein, dass auch Matthäus in seinem Evangelium bereits auf diese Sprache zurückgreift. Wir finden mehrere Stellen in seinem Evangelium, an denen er explizit von Jerusalem als heiliger Stadt spricht:

Dann nimmt der Teufel ihn mit in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels.

— Matthäus 4,5 (Hervorhebung hinzugefügt)

[u]nd sie kamen nach seiner Auferweckung aus den Grüften hervor und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen.

— Matthäus 27,53 (Hervorhebung hinzugefügt)

Wenn Jesus also in Matthäus 24 von dem heiligen Ort redet muss damit nicht notwendigerweise automatisch der Tempel gemeint sein. Für die jüdischen Zuhörer des ersten Jahrhunderts konnte Jesus mit gleicher Selbstverständlichkeit die ganze Stadt Jerusalem als heiligen Ort bezeichnen. Dafür gibt es wie oben aufgeführt zahlreiche Beispiele.

Es gibt eine Stelle in Sacharja, in der sogar das ganze Land Israel als heiliges Land bezeichnet wird:

Und der Herr wird Juda als sein Erbteil besitzen im heiligen Land und wird Jerusalem noch erwählen.

— Sacharja 2,16 (Hervorhebung hinzugefügt)

Lukas erklärt den Gräuel der Verwüstung

Vor dem Hintergrund, dass Matthäus sein Evangelium in erster Linie an Judenchristen gerichtet hat, macht es Sinn, dass er hier Jesu Worte einfach als heiliger Ort widergibt. Er konnte davon ausgehen, dass seine jüdischen Hörer und Leser mit der Sprache und den Bildern des Alten Testaments vertraut waren und diese verstanden. Er hat daher sehr oft und stark auf diese zurückgegriffen. Insofern hat er zum Beispiel voraussetzen können, dass der Begriff heiliger Ort wie oben besprochen zum Beispiel nicht einfach automatisch als der Tempel sondern durchaus auch als Stadt Jerusalem verstanden wurde.

Lukas' Zielgruppe waren hingegen die hellenistischen Heiden. Diese waren nicht mit der Sprache und den Bildern des AT vertraut. Deshalb hat Lukas sozusagen diese Bildersprache für seine Hörer und Leser »übersetzt« und in griechischer Alltagssprache die in den Bildern verpackten Wahrheiten ausgedrückt.

Wenn wir nun die Stelle, in der Matthäus vom Gräuel der Verwüstung spricht, betrachten und mit der Parallelstelle in Lukas vergleichen, finden wir folgendes:

Matthäus 24,15-16

Lukas 21,20-21

Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort […​], dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen; […​]

Wenn ihr aber Jerusalem von Heerlagern umzingelt seht, dann erkennt, dass ihre Verwüstung nahe gekommen ist. Dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen, […​]

Gemäß Lukas ist bereits die Belagerung und Umzingelung der Stadt Jerusalem durch feindliche Armeen der Gräuel der Verwüstung. Solche Ereignisse waren also für die Christen das Zeichen, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen.

Wenn man sich die Geschichte des jüdischen Krieges von 66 n. Chr. bis zur Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. betrachtet, stellt man fest, dass Jerusalem innerhalb dieses Krieges insgesamt sogar dreimal von den römischen Armeen belagert wurde, bevor die Stadt eingenommen und zerstört wurde. Dieses so prägnante Zeichen als letzte Mahnung zur Flucht vor dem Gericht an der untreuen Braut gab es also wirklich im ersten Jahrhundert etwas eine Generation nach Jesu Wirken.

Warum sind die belagernden römischen Armeen ein Gräuel?

Nachdem wir festgestellt haben, dass das von Jesus angekündigte Gräuel der Verwüstung offensichtlich die Belagerung Jerusalems durch die römischen Truppen während des jüdisch-römischen Krieges war, stellt sich die Frage, warum dies als Gräuel bezeichnet wird. Oben hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Wortes Gräuel im Alten Testament in der Regel im Zusammenhang mit Götzendienst steht. Inwieweit stand eine Belagerung durch die römischen Armeen im Zusammenhang mit Götzendienst? Antworten auf diese Frage finden wir, wenn wir uns die Gepflogenheiten der Legionen betrachten und auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen damals schauen.

Jede römische Armee bzw. Legion führte ein Feldzeichen mit sich. Auf diesem Feldzeichen waren Adler und kleine Brustbilder des Kaisers abgebildet. Es handelte sich bei diesen Feldzeichen nicht einfach um Standarten zur Identifikation der Legionen sondern um religiöse Insignien. Die Soldaten huldigten diesen Feldzeichen und verehrten diese wie einen Gott. Dies berichtet uns zum Beispiel Tertullian:

Die ganze römische Soldatenreligion besteht in der Verehrung der Feldzeichen, schwört bei den Feldzeichen und stellt die Feldzeichen über alle Götter.

— Apologetikum 16

Die Verehrung der Feldzeichen, die laut Tertullian sogar über allen Göttern standen, bezeichnet er als Soldatenreligion. Diese Praxis kann man ohne jeden Zweifel als Götzendienst bezeichnen. Und ein solcher Götzendienst war den Juden natürlich ein Gräuel. Dies bestätigt uns auch Josephus. Dazu zwei Berichte von ihm:

Als der jüdische Landpfleger Pilatus sein Heer aus Caesarea nach Jerusalem in die Winterquartiere geführt hatte, liess er, um seine Missachtung gegen die jüdischen Gesetze an den Tag zu legen, das Bild des Caesars auf den Feldzeichen in die Stadt tragen, obwohl doch unser Gesetz alle Bilder verbietet. Aus diesem Grunde hatten die früheren Landpfleger stets die Feldzeichen ohne dergleichen Verzierungen beim Einzug der Truppen in die Stadt vorantragen lassen. Pilatus war der erste, der ohne Vorwissen des Volkes zur Nachtzeit jene Bildnisse nach Jerusalem bringen und dort aufstellen liess.

Sobald das Volk dies erfuhr, zog es in hellen Haufen nach Caesarea und bestürmte den Pilatus viele Tage lang mit Bitten, er möge die Bilder doch irgendwo anders hinbringen lassen. Das gab aber Pilatus nicht zu, weil darin eine Beleidigung des Caesars liege.

Als indes das Volk nicht aufhörte, ihn zu drängen, bewaffnete er am siebenten Tage in aller Stille seine Soldaten und bestieg eine in der Rennbahn befindliche Tribüne, hinter welcher die Bewaffneten versteckt lagen. Da nun die Juden ihn abermals bestürmten, gab er den Soldaten ein Zeichen, dieselben zu umzingeln, und drohte ihnen mit augenblicklicher Niedermetzelung. wenn sie sich nicht ruhig nach Hause begaben. Die Juden aber warfen sich zu Boden, entblössten ihren Hals und erklärten, sie wollten lieber sterben als etwas geschehen lassen, was der weisen Vorschrift ihrer Gesetze zuwiderlaufe. Einer solchen Standhaftigkeit bei Beobachtung des Gesetzes konnte Pilatus seine Bewunderung nicht versagen und befahl daher, die Bilder sogleich aus Jerusalem nach Caesarea zurückzubringen.

— Jüdische Altertümer 18:3:1 (Hervorhebungen hinzugefügt)

Vitellius also rüstete sich zum Kriege gegen Aretas, zog zwei Legionen Schwerbewaffnete, alle dazu gehörige leichte Mannschaft sowie die von den verbündeten Königen gestellte Reiterei an sich, eilte auf Petra zu und gelangte zunächst nach Ptolemais. Als er aber von hier aus mit seinem Heere durch Judaea marschieren wollte, kamen ihm die vornehmsten Männer entgegen und baten ihn, diesen Weg nicht zu benutzen, da es nach ihrem Gesetze verboten sei, Bilder, deren sich viele auf den Feldzeicheu befanden, durch das Land zu tragen.

Vitellius gab diesen Bitten nach, änderte seine Absicht, liess sein Heer durch die grosse Ebene ziehen und begab sich selbst mit dem Tetrarchen Herodes und seinen Freunden nach Jerusalem, um hier, weil gerade ein jüdisches Fest bevorstand, Gott ein Opfer darzubringen. Als er daselbst anlangte, bereiteten ihm die Juden einen ehrenvollen Empfang.

— Jüdische Altertümer 18:5:3 (Hervorhebung hinzugefügt)

Josephus berichtet uns von zwei Situationen, an denen die Juden die römischen Offiziellen bestürmten, ihre Feldzeichen voller Götzenbilder nicht in die Stadt Jerusalem bzw. nicht in das Land Judäa zu bringen. Im ersten oben geschilderten Fall hätten sich die Juden lieber umgebracht als die Götzenbilder in ihrer heiligen Stadt zu akzeptieren. Wie groß muss aus Sicht der Juden der Frevel gewesen sein, dass während des Krieges römische Armeen mit ihren Feldzeichen in Judäa einfielen und verwüsteten und schlussendlich ihre Lager voller Feldzeichen mit Bildern vor den Mauern Jerusalems aufschlugen. Geistlich betrachtet könnte man von einem Anti-Tempel vor den Toren Jerusalems sprechen.

Verwüstung

Das mit Verwüstung übersetzte Wort ist im Griechischen erēmōsis. Dieses Wort verwendet Jesus bereits in Matthäus 23,38 in der Verbform des Wortes (erēmos). Dort kündigt er mit diesem Wort nach den Gerichtsworten gegen die Pharisäer die Zerstörung des Tempels an.

Siehe, euer Haus wird euch öde [oder verwüstet] gelassen.

— Matthäus 23,38

Genau dies geschah durch die römischen Legionen, deren Erscheinen in Judäa und insbesondere vor den Mauern Jerusalems ein Gräuel war. Sie waren ein Gräuel, das Verwüstung gebracht und bewirkt hat.​[2] Josephus berichtet uns sehr eindringlich von der vollständigen Zerstörung Jerusalems und des Tempels nachdem die Stadt in die Hände der Römer gefallen war. Um diese Zerstörung zu beschreiben, verwendet Josephus interessanterweise dasselbe griechische Wort wie Jesus hier (siehe Jüdischer Krieg 6:10:1).

Zusammenfassung

Diese Stelle redet also nicht von Ereignissen, die auch für uns noch in ferner Zukunft liegen, wie es die futuristische Position vertritt. Die Worte Jesu kündigen das Gericht Gottes an seinem treulosen Bundesvolk an. Dieses Gericht kam in Form der römischen Armeen, die während des jüdischen Krieges das heilige Land verwüsteten und sogar mehrfach vor Jerusalem, der heiligen Stadt, auftauchten, um diese zu belagern. Dies war den Juden ein Gräuel, da die römischen Soldaten Feldzeichen mit sich führten, die sie wie Götter verehrten. Die Bilder dieser Feldzeichen verstießen gegen das Gebot, sich keine Bilder zu machen und Geschaffenes nicht anzubeten.

Die Nachfolger Jesu sollten aufmerksam die Zeichen der Zeit beobachten. Wenn sie dieses Gräuel sehen, sollten sie die Stadt schleunigst verlassen. Es war keine Zeit zu verlieren. Das endgültige Gericht Gottes an JErusalem und dem Tempel stand unmittelbar bevor. In dieser Stadt und vor allem in diesem Tempel würde nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden. Die römischen Armeen waren die von Gott gesandten Boten, das Gericht auszuführen und zu vollenden.

Dieses Vorgehen Gottes können wir immer wieder in der Geschichte Israels beobachten. So war zum Beispiel Nebukadnezzar Gottes Werkzeug zum Gericht Gottes an Israel. Und gleichermaßen war Kores Gottes Gesalbter, das Volk Israel wieder aus der Knechtschaft zu befreien und nach Jerusalem zurückzubringen. Gott nutzt Völker und Machthaber, um seine Pläne mit dieser Welt und insbesondere mit seinem Bundesvolk auszuführen.

Weitere Gräuel im Zusammenhang mit dem Krieg

Gerade die Parallele zwischen Matthäus und Lukas macht deutlich, dass mit dem Gräuel der Verwüstung die Belagerung Jerusalems durch die römischen Armeen im ersten Jahrhundert vor der Zerstörung der Stadt im Jahr 70 n. Chr. gemeint ist. Dieses Zeichen war eindeutig, unübersehbar und definitiv etwas, was alle Juden als Gräuel empfunden haben.

Darüberhinaus haben sich im Verlaufe dieses Krieges aber viele weitere Dinge ereignet, die ein gläubiger Mensch ebenfalls als Gräuel empfunden hätte.

Die Römer errichten ihr Feldzeichen im Tempel

Der Aufmarsch der Römer vor den Mauern Jerusalems alleine war wie oben diskutiert bereits ein Gräuel. Nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels erreichte das Gräuel allerdings noch einen Höhepunkte. Die Soldaten der siegreichen Legionen errichten ihr Feldzeichen über den Resten des Tempels und bringen dort Opfer. Davon lesen wir bei Josephus:

Als die Empörer in die Stadt geflohen waren und der Tempel mit allen seinen Nebengebäuden in Flammen stand, brachten die Römer ihre Feldzeichen in den Tempelhof, pflanzten sie gegenüber dem östlichen Tore auf, opferten ihnen dort und begrüßten unter lauten Beifallsrufen Titus als Imperator.

— Jüdischer Krieg 6:6:1

Allerdings war dies sicher nicht das Gräuel, welches Jesus im Blick hatte. Als die Römer das Feldzeichen errichteten, war jede Flucht bereits viel zu spät. Alle Bewohner der Stadt waren tot oder versklavt.

Die Juden selbst entweihen den Tempel im Bürgerkrieg

Während des Krieges gegen die Römer waren die Juden in verschiedene Parteiungen aufgespalten, die zum Teil miteinander verfeindet waren und sich gegenseitig bekämpften. So kam es während Kampfpausen mit den Römern auch immer wieder zum Bürgerkrieg der jüdischen Gruppierungen untereinander. Auch während der abschließenden Belagerung Jerusalems unter Titus war die Bevölkerung Jerusalem gleichzeitig einem grausamen Bügerkrieg innerhalb der Stadtmauern ausgeliefert. Eine dieser Parteien verschanzte sich während der Belagerung Jerusalems sogar im Tempel und entweihte diesen. So bekämpften sich die verfeindeten Gruppierungen sogar im Tempel und entweihten dieses Haus aufs Schändlichste. Auch hiervon berichtet Josephus.

In Jerusalem hatte zu der Zeit, da er [=Titus] in Alexandreia seinem Vater die neue, ihnen von dem Gott verliehene Herrschaft befestigen half, der Aufruhr frisches Leben bekommen und drei Parteien erzeugt, von denen jede der anderen feindlich gegenüberstand — was man eigentlich noch ein Glück im Unglück und ein Werk der Gerechtigkeit nennen darf. […​] Nicht mit Unrecht kann man, was jetzt geschah, als Aufruhr im Aufruhr bezeichnen, der wie ein tollwütiges Tier, dem es an Nahrung mangelt, bereits gegen das eigene Fleisch zu wüten begann. […​]

Sie besetzten nun den inneren Tempelraum und pflanzten über den heiligen Toren gegenüber dem Allerheiligsten ihre Waffen auf. Mit Lebensmitteln reichlich versehen, waren sie zuversichtlich; denn die Opfergaben überhoben diese Menschen, die nichts für unerlaubt hielten, aller Not. […​]

beide Seiten machten beständig Ausfälle, und die Geschosse flogen hin und her, so daß der Tempel bald keine Stelle mehr aufwies, die nicht mit dem Blut der Gefallenen befleckt gewesen wäre. […​]

Leichen von Einheimischen und Fremden, von Priestern und Laien lagen durcheinander aufgehäuft, und ihr Blut bildete in den heiligen Räumen einen förmlichen See. Hast du, unseligste der Städte, so etwas von den Römern dulden müssen? Nein, sie kamen, um die Greuel mit Feuer zu sühnen! Denn des Gottes Stadt warst du nicht mehr und konntest es nicht bleiben, nachdem du das Grab deiner eigenen Bewohner geworden warst und den Tempel zum Begräbnisplatz für die Opfer des Bürgerkrieges gemacht hattest. Vielleicht wirst du wieder einmal bessere Tage sehen, wenn du den Gott, der dich zerstörte, versöhnt hast!

— Jüdischer Krieg 5:1:1-3

Die in Judäa sollen in die Berge fliehen (V16)

Die dritte und letzte Belagerung Jerusalems fand 70 n. Chr. durch Titus statt. Dieser riegelte die Stadt hermetisch ab. Ab diesem Zeitpunkt gab kein Entrinnen mehr (Jüdischer Krieg 5:12:1+3). Aber wie konnten die Verständigen, die die Worte Jesu bewahrt und ihnen geglaubt hatten, dann noch fliehen, nachdem sie das Gräuel gesehen haben?

Wie oben bereits einmal angemerkt, wurde die Stadt im Verlauf des gesamten Krieges insgesamt dreimal von römischen Armeen belagert. Erst die dritte Belagerung riegelte die Stadt vollständig von der Außenwelt ab und endete mit der vollständigen Vernichtung. Nachdem die dritte Belagerung begonnen hatte, hatte tatsächlich niemand mehr die Chance, die Stadt lebendig zu verlassen. Aber die römischen Armeen waren zuvor bereits zweimal vor Jerusalems aufgetaucht und hatten begonnen die Stadt zu belagern. Gott jedoch hatte es jedoch in seiner Güte so gefügt, dass die ersten beiden Belagerungen aufrgund zum Teil wundersamer Umstände nach kurzer Zeit wieder abgebrochen wurden.

Die Christen ind Judäa und insbesondere in Jerusalem hatten also zweimal ein ganz eindeutiges bekommen und dennoch im Anschluss die Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen und die Stadt zu verlassen.

Die erste Belagerung Jerusalems fand im Jahr 66 n. Chr. durch Cestius Gallus statt. Die Ereignisse rund um diese Belagerung waren erst der Auslöser für den eigentlichen Krieg. Dass heißt, mit dem eigentlichen Kriegsbeginn, vier Jahre vor der endgültigen Zerstörung Jerusalems, waren alle Christen bereits gewarnt, dass das unmittelbare Ende nun begonnen hatte.

Während dieser Belagerung wurde die Stadt völlig umzingelt und war ebenfalls vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Da die Stadt nicht auf eine Belagerung vorbereitet war, stand die Sache militärisch sehr schlecht und es schien, als würde die Stadt schon nach kurzer Zeit in die Hände der Römer fallen. Stattdessen wurde die Belagerung jedoch aus völlig unerfindlichen Gründen abgebrochen und die Römer zogen sich nach fünf Tagen wieder zurück. Auch davon berichtet uns Josephus.

In diesem Zwist unter den Judäern erkannte Cestius eine günstige Gelegenheit zum Angriff. Er führte seine gesamte Streitmacht gegen sie heran, jagte sie in die Flucht und verfolgte sie bis Jerusalem. Hier errichtete er auf dem sogenannten Skopos, sieben Stadien von der Stadt entfernt, ein Lager und unternahm, vielleicht in der Erwartung, die Bewohner würden ihm in etwa entgegenkommen, zunächst drei Tage lang nichts, sondern ließ nur starke Abteilungen seiner Leute Streifzüge in die umliegenden Dörfer machen, um Proviant zusammenzurauben. Am vierten Tage aber, dem dreißigsten des Monats Hyperberetaios, stellte er sein Heer in Schlachtordnung auf und führte es in die Stadt hinein. Dort wurde das Volk von den Aufständischen bewacht; diese selbst aber, erschreckt durch den planvollen Aufmarsch der Römer, gaben bald die Stadtteile auf und zogen sich in die innere und den Tempel zurück. Beim Einrücken steckte Cestius Bezetha, die Neustadt, und den sogenannten Holzmarkt in Brand. Dann zog er gegen die obere Stadt und lagerte sich gegenüber dem Königspalast. Hätte er sich in diesem Augenblick entschlossen, die Mauern zu stürmen, würde er die Stadt eingenommen haben, und der Krieg wäre zu Ende gewesen. Doch der Lagerpräfekt Tyrannius Priscus und die meisten Hipparchen, die von Florus bestochen waren, brachten ihn von diesem Plan ab. Das war der Grund, weshalb sich der Krieg so sehr in die Länge zog und so reich an schweren Unglücksfällen für die Judaer geworden ist. […​]

Fünf Tage lang machten die Römer von allen Seiten Versuche, ohne etwas auszurichten; am sechsten Tage nahm Cestius eine starke Abteilung ausgewählter Mannschaften sowie die Bogenschützen und griff mit ihnen die Nordseite des Tempels an. Die Judaer leisteten von den Säulenhallen herab heftigen Widerstand und schlugen wiederholt den Sturm auf die Mauern ab, mußten aber endlich dem Geschoßhagel weichen. Nun bildeten die Römer, indem die Kämpfer der vordersten Reihe ihre Schilde fest gegen die Mauer, die nachfolgenden ihre jeweils an die ihrer Vordermänner anstemmten, die sogenannte „Schildkröte“, von der die aufschlagenden Geschosse wirkungslos abprallten. In aller Sicherheit konnten die Soldaten jetzt die Mauer untergraben, und bald schickten sie sich an, das Tempeltor in Brand zu stecken.

Großer Schrecken ergriff nun die Empörer, und viele von ihnen flüchteten bereits aus der Stadt, als stände deren Eroberung unmittelbar bevor. Eben deshalb aber faßte das Volk wieder Mut: Wie die Nichtswürdigen sich davonmachten, näherte es sich den Toren, um sie zu öffnen und Cestius als Wohltäter aufzunehmen. Hätte dieser die Belagerung nur noch kurze Zeit fortgesetzt, würde er die Stadt rasch in seine Gewalt bekommen haben. Der Gott aber hatte, wie ich glaube, wegen der Nichtswürdigen schon damals sich vom Heiligtum abgewandt und ließ deshalb an jenem Tage den Krieg sein Ende nicht erreichen.

Cestius, der weder die Verzweiflung der Belagerten noch die Stimmung des Volkes zu kennen schien, ließ plötzlich seine Soldaten den Rückzug antreten, gab, obwohl er keinen Rückschlag erlitten, alle Hoffnung auf und verließ unbegreiflicherweise die Stadt.

— Jüdischer Krieg 2:19:4-7

Tatsächlich verließen daraufhin viele Juden die Stadt und ergriffen die Flucht. Auch das schildert Josephus:

Nach der Niederlage des Cestius verließen viele angesehene Judaer die Stadt, wie der Seemann schwimmend das sinkende Schiff verläßt.

— Jüdischer Krieg 2:20:1

Die zweite Belagerung fand dann 68 n. Chr. unter Vespasian statt. Auch hierbei wurde Jerusalem wird erneut umzingelt (siehe Jüdischer Krieg 4:9:1). Doch der plötzliche Tod Neros und der anschließende Kampf um die Macht führten zur Unterbrechung der Belagerung (Jüdischer Krieg 4:9:2; 4:10:2).

Also war die Bevölkerung Jerusalems ein weites Mal gewarnt. Der Gräuel der Verwüstung war erneut vor den Toren Jerusalems aufgetaucht und doch gab es noch ein weiteres Mal die Möglichkeit zur Flucht. Wer es liest, beachte es!

Nachdem sich Vespasian im Kampf um die Kaiserkrone durchgesetzt hatte und nach Rom gereist war, um dort seine Macht zu sichern, setzte sein Sohn Titus die Belagerung Jerusalems fort, die sein Vater begonnen hatte. Die Stadt wurde nun zum Letzten Mal hermetisch abgeriegelt und fiel nach fünf Monaten in die Hände der Römer. Damit war das Gericht Gottes an zum Ende gekommen. Doch Gott bewahrt die, die zu ihm gehören. Und er ist langmütig mit seinen Feinden. Zweimal gab es die Gelegenheit zur Flucht. Wohl dem, der diese Gelegenheit ergriffen hatte!


1. Das hebräische Wort, das wir in Daniel 9,27 mit Gräuel übersetzen ist šiqqûṣ. Dieses findet sich noch in 5Mo 29,17; 1Kö 11,5.7; 2Kö 23,13.24; 2Chr 15,8; Jes 66,3; Jer 4,1; 7,30; 13,27; 16,18; 32,34; Hes 5,11; 7,20; 11,18.21; 20,7-8.30; 37,23; Dan 11,31; 12,11; Hos 9,10; Nah 3,6; Sach 9,7
2. Es gibt einige englische Bibelübersetzungen, die den Gedanken, dass das Gräuel die Ursache der Verwüstung war, direkt ausdrücken. Dort lesen wir dann: the abomination that causes desolation (z.B. NIV und Holman Christian Standard Bible).