Die Vorgeschichte
Wir schauen uns nun zunächst die Geschehnisse im Vorfeld der Rede auf dem Ölberg an. Was ist vorher passiert? Was ist der Kontext der Rede Jesu? In Kapitel 20 beginnt Jesu Reise nach Jerusalem. An diesem Punkt steigen wir ein. Der relevante Text ist daher Matthäus 20-24.
Der König kommt in seine Stadt (Matthäus 20,17 – 21,11)
Und als Jesus nach Jerusalem hinaufging, nahm er die zwölf Jünger für sich allein zu sich und sprach auf dem Weg zu ihnen: Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert werden; und sie werden ihn zum Tod verurteilen und werden ihn den Nationen überliefern, damit sie ihn verspotten und geißeln und kreuzigen; und am dritten Tag wird er auferstehen.
Und als sie sich Jerusalem näherten und nach Bethphage kamen, an den Ölberg, da sandte Jesus zwei Jünger und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf euch gegenüber; und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr; bindet [sie] los und führt [sie] zu mir.
Die Volksmengen aber, die vor ihm hergingen und die nachfolgten, riefen und sagten: Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen [sei], der da kommt im Namen [des] Herrn! Hosanna in der Höhe!
Der Sohn in seines Vaters Haus (Matthäus 21,12–17)
Und Jesus trat in den Tempel ein und trieb alle hinaus, die im Tempel verkauften und kauften; und die Tische der Wechsler und die Sitze der Taubenverkäufer stieß er um. Und er spricht zu ihnen: Es steht geschrieben: »Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden.«; ihr aber macht es zu einer Räuberhöhle. Und es kamen Blinde und Lahme im Tempel zu ihm, und er heilte sie.
Der erste Konflikt mit den Feinden Gottes
Der erste Konflikt mit den Führern Israels zeigt sich in zwei Ereignissen:
-
Die Pharisäer stören sich an den Kindern, die Jesus preisen (Mt 21,15-17).
-
Die Pharisäer hinterfragen die Vollmacht Jesu (Mt 21,23-27).
Gerichtsankündigung in Form von Gleichnissen (Matthäus 21,28 – 22,14)
Jesus kündigt Israel und insbesondere seinen Führern Gericht in Form von Gleichnissen an:
-
Das Gleichnis vom gehorsamen und ungehorsamen Sohn. Wer tut den Willen des Vaters? Wie sieht es bei den Pharisäern und Schriftgelehrten aus? (Mt 21,28-32)
-
Das Gleichnis vom Weinberg: die Pächter töten zuerst die Boten und zuletzt den Sohn des Herrn des Weinbergs. Deshalb werden die bösen Pächter getötet und ihnen der Weinberg genommen werden (Mt 21,33-46).
-
Nach diesem Gleichnis sagen die Pharisäer sich selbst das schreckliche Gericht voraus.
-
Die Pharisäer begreifen auch, dass sie angesprochen sind. Diese Erkenntnis führt jedoch nicht zu Buße und Umkehr. Sie halten an ihrem Kurs fest.
Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen und sagte [sich]: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen! Und sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Weingärtnern tun? Sie sagen zu ihm: Er wird jene Übeltäter auf schlimme Weise umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten, die ihm die Früchte abliefern werden zu ihrer Zeit.
— Matthäus 21,37-41
-
-
Das Hochzeitsfest des Sohnes: die Geladenen Gäste wollen nicht kommen, sie misshandeln die Boten des Königs. Infolgedessen bestraft der König die unwilligen Gäste und schickt seine Boten hinaus, um andere Gäste zu laden (Mt 22,1-14).
-
Mit der Misshandlung besteht eine Parallele zum vorhergehenden Gleichnis.
-
In diesem Gleichnis wird die Strafe konkretisiert: Die Zerstörung der Stadt. Dies ist ja tatsächlich 70 n. Chr. passiert.
Der König aber wurde zornig und sandte seine Heere aus, brachte jene Mörder um und setzte ihre Stadt in Brand.
— Matthäus 22,7
-
Der Konflikt zwischen Jesus und seinen Feinden spitzt sich zu (Matthäus 22,15–46)
Die Auseinandersetzung zwischen den rebellischen Führern des Volkes Israel und Jesus spitzt sich weiter zu. Sie versuchen Jesus in eine Falle zu locken, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben:
-
Die Pharisäer und Herodianer stellen Jesus eine Falle: Sollen dem Kaiser Steuern gezahlt werden? (Mt 22,15-22)
-
Die Sadduzäer fordern Jesus heraus: Die Unsinnigkeit der Auferstehung. (Mt 22,23-33)
-
Ein Gesetzeslehrer stellt die Frage nach dem größten Gebot. (Mt 22,34-40)
Jesus allerdings dreht den Spieß um und macht die Gelehrten mundtot, indem er ihnen eine Frage stellt: Wessen Sohn ist der Christus? (Mt 22,41-46)
Jesus verhängt die Strafe über das unbußfertige Volk (Matthäus 23)
Jesus warnt seine Nachfolger davor, den Weg der Pharisäer und Schriftgelehrten zu gehen. Denn dieser Weg führt unausweichlich in das Gericht (Mt 23,1-12). Danach wendet sich Jesus an die Schriftgelehrten und spricht die sieben Wehe über die sie aus (Mt 23,13-38). Am Schluß dieser Rede kündigt Jesus ein Gericht über diese Generation an:
Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, [ihr] Heuchler! Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten und sagt: Wären wir in den Tagen unserer Väter gewesen, [so] würden wir nicht ihre Teilhaber an dem Blut der Propheten gewesen sein. Also gebt ihr euch selbst Zeugnis, dass ihr Söhne derer seid, die die Propheten ermordet haben; und ihr – macht das Maß eurer Väter voll!
[Ihr] Schlangen! [Ihr] Otternbrut! Wie solltet ihr dem Gericht der Hölle entfliehen? Darum siehe, ich sende Propheten und Weise und Schriftgelehrte zu euch; und [einige] von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und [einige] von ihnen werdet ihr in euren Synagogen geißeln und werdet [sie] verfolgen von Stadt zu Stadt; damit über euch komme alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde: von dem Blut Abels, des Gerechten, bis zu dem Blut Sacharjas, [des] Sohnes Berekjas, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt. Wahrlich, ich sage euch, dies alles wird über dieses Geschlecht [oder: diese Generation] kommen.
Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: »Gepriesen [sei], der da kommt im Namen [des] Herrn!«
Was sagt Jesus hier?
-
Die zur Zeit Jesu lebenden Juden machen das Maß der Ungerechtigkeit voll (Mt 23,31.32).
-
Seine Hörer sind weiterhin - wie ihre Vorfahren - unbußfertig (Mt 23,34).
-
Jesus verhängt eine Strafe über diese Generation (Mt 23,36.38).
Jesus kündigt diesem Geschlecht bzw. dieser Generation ein Gericht an. Mit dieser Aussage sind seine Zuhörer, das sind insbesondere die Führer des Volkes, angesprochen. Dies passt auch zum biblischen Verständnis einer Generation, welches etwa 40 Jahren entspricht: die Generation »Mose« durfte nicht in das verheißene Land, daher musste das Volk 40 Jahre in der Wüste umherziehen (s. 4Mo 14). Dieses angekündigte und kurz bevorstehende Gericht wird weiterhin deutlich durch den Kontrast zwischen Mein Haus und Euer Haus: Gott verlässt den Tempel, wodurch dieser seine Bedeutung als Heiligtum verliert. Für die Juden, also auch für die Jünger, ein unvorstellbarer Gedanke!
In Matthäus 21,13 lesen wir »Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden«, während es in Matthäus 23,38 heißt: »Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen.«
Matthäus 24
Jesus und seine Jünger verlassen den Tempel (Matthäus 24,1–2)
Unter dem Eindruck dieser unvorstellbaren Ankündigung weisen die Jünger Jesus auf den eindrucksvollen und prächtigen Tempelbau hin: Diese Pracht und diese Herrlichkeit kann doch nicht untergehen!
Und Jesus trat hinaus und ging von dem Tempel weg; und seine Jünger traten herzu, um ihm die Gebäude des Tempels zu zeigen.
Und als er aus dem Tempel heraustritt, sagt einer seiner Jünger zu ihm: Lehrer, siehe, was für Steine und was für Gebäude!
Und als einige von dem Tempel sagten, dass er mit schönen Steinen und Weihgeschenken geschmückt sei, sprach er: […]
Doch Jesus rudert nicht zurück. Er bestätigt seine vorangegangenen Worte und konkretisiert das Gericht erneut: Der Tempel wird nicht nur von Gott verlassen sondern auch vollkommen zerstört werden: »Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden« (Mt 24,2). Der Tempel wird nicht nur gottverlassen sondern er wird mit der Stadt zerstört!
Die Fragen der Jünger (Matthäus 24,3)
Unter dem Eindruck dieser Vorhersage, stellen die Jünger Jesus mehrere Fragen:
-
Wann werden diese Dinge geschehen?
-
Was wird das Zeichen deiner Ankunft/deines Kommens sein?
-
Was ist das Zeichen der Vollendung/des Endes des Zeitalters/der Welt?
Auf den ersten Blick scheinen das drei verschiedene Fragen zu sein. In den Parallelstellen bei Markus und Lukas werden die Fragen allerdings anders wiedergegeben. Der dritte Teil der Frage fehlt hier während die zweite Frage deutlich anders formuliert ist.
Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen, wann dies alles vollendet werden soll?
Lehrer, wann wird denn das sein, und was ist das Zeichen, wann dies geschehen soll?
In den Parallelstellen bei Markus und Lukas fällt auch die Antwort von Jesus kürzer aus. Dort ist jeweils nur der Abschnitt aus Matthäus 24,4-35 (in z.T. deutlich anderer Form) enthalten, die Gleichnisse in Matthäus 25 fehlen fast vollständig. Nur bei Markus ist ein Gleichnis zum Thema Wachsamkeit enthalten, das wir bei Matthäus in Kapitel 25 finden.
Im jüdischen Weltbild ist das Ende des Tempels durchaus gleichbedeutend mit dem Ende der Welt bzw. mit dem Ende der althergebrachten Weltordnung. Die Weltordnung ist der Bund Gottes mit seinem Volk. Wenn Gott den Tempel verlässt und zerstört, wäre dies wieder eine Zäsur in der Geschichte des Volkes Israels, die einen Neuanfang, einen neuen Bund, eine neue Schöpfung notwendig macht.
Folgende Fragen stellen sich:
-
Um was für ein Kommen geht es hier? Muss es sich zwangsweise um das zweite, physische Kommen Christi am Ende des jetzigen Zeitalters handeln?
-
Wenn man sich Markus und Lukas anschaut, scheint es doch so zu sein, dass die Frage nach der Ankunft Jesu (so bei Mt) die gleiche Frage ist wie die Frage nach dem Zeichen, an dem die Jünger erkennen können, das sich alles erfüllt. Warum formuliert Matthäus diese Frage so anders?
-
Bezieht sich die dritte Frage auf das Ende der Welt oder auf das Ende eines Zeitalters? Welches Zeitalter könnte gemeint sein (der Sinai-Bund oder der Neue Bund)?
-
Sollten wir die Frage zwei und drei bei Matthäus als einen Block verstehen, den Markus und Lukas jeweils nur mit einer einfachen Frage wiedergeben?
Jesus bestätigt erneut das Gericht innerhalb einer Generation (Matthäus 24,35)
Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht [oder besser: diese Generation] wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist.
Das in vielen deutschen Übersetzungen mit Geschlecht übersetzte Wort ist das griechische Wort genea. Dieses kann auch mit Generation übersetzt werden. Das Wort genea wird in den Evangelien und besonders im Matthäus-Evangelium häufig verwendet. In der überwiegenden Zahl der Fälle, in denen dieses Wort verwendet wird, ist sehr eindeutig, die zur Zeit Jesu lebende Generation bezeichnet und nicht das Geschlecht der Juden im Allgemeinen. Von daher liegt es nahe, dass Matthäus das Wort auch hier in dieser Bedeutung verwendet. Im Anhang ist eine Übersicht mit allen Stellen, an denen genea im NT verwendet wird.
Jesus bekräftigt in diesem Vers also, dass alles, was er bis dahin gesagt hat (Verse 4-34), innerhalb einer Generation eintreffen wird. Mindestens der erste Teil der Rede handelt also wiederum von der Zerstörung des Tempels/Jerusalems innerhalb des ersten Jahrhunderts.
Es stellt sich die Frage, ob die abschließenden Verse von Kapitel 24 und auch das Kapitel 25 ebenfalls noch von Dingen handeln, die innerhalb einer Generation eintreten werden, oder ob es hier um Themen geht, die in fernerer Zukunft liegen. Unter den präteristischen Auslegern gibt es zwei Standpunkt, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.
Gliederung
Folgende Beobachtung lässt sich machen: Matthäus berichtet von drei Fragen der Jünger, während wir in Markus und Lukas nur zwei Fragen finden. Wenn man die ersten beiden Fragen bei Matthäus mit den Fragen bei Markus und Lukas vergleicht, kann man feststellen, dass die Jünger nach dem Wann fragen und nach den Zeichen, die mit der Zerstörung des Tempels einhergehen.
Die Verse 4 bis 35 bei Matthäus finden sich dann in allen drei Evangelien. Es gibt dabei zum Teil deutliche Unterschiede in der Formulierung, aber insgesamt sind die drei Texte sehr kongruent. Auf die Gründe für die Unterschiede gehe ich später ein.
Dieser Zusammenhang führt dazu, dass viele präteristische Ausleger der Ansicht sind, der Abschnitt bis etwa Vers 35 handelt von der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. und den vorhergehenden Ereignissen, während der Rest der Rede Jesu von Seinem Zweiten Kommen am Ende des jetzigen Zeitalters redet. Das wäre dann die Antwort auf die dritte Frage der Jünger nach dem Zeichen der Vollendung des Zeitalters. Das Ende des Zeitalters ist in diesem Falle dann das aktuelle Zeitalter, in dem wir gerade leben.
Dieser Standpunkt nochmal in folgender Tabelle verdeutlicht:
Frage | Matthäus | Markus / Lukas |
---|---|---|
1) |
Wann? |
Wann? |
2) |
Zeichen deines Kommens? |
Was ist das Zeichen, wann dies geschehen soll? |
3) |
Was ist das Zeichen der Vollendung des Zeitalters |
(fehlt) |
Dies führt dann zu folgender Gliederung von Matthäus 24 und 25:
Abschnitt | Inhalt |
---|---|
24,1-2 |
Vorhersage des Gerichts |
24,3 |
Fragen der Jünger |
24,4-35 |
Das Gericht über Israel/Jerusalem. Antwort auf: Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft […]? |
24,36 – 25,46 |
Das Zweite Kommen Jesu. Antwort auf: Was ist das Zeichen […] [der] Vollendung des Zeitalters? |
Diese Ansicht ist aus verschiedenen Gründen kritisch. Zuallererst müssen wir uns fragen, ob die Jünger ihre Frage in diesem Sinne verstanden wissen wollten. Vermutlich offensichtlich nicht. Jesus hatte das Ende des Tempels vorhergesagt und daraufhin stellen die Jünger ihre Fragen. Die Frage nach dem Zeichen der Vollendung des Zeitalters steht für sie in unmittelbaren Zusammenhang mit der Zerstörung des Tempels.
Wenn man nun davon ausgeht, dass Jesus die ersten beiden Fragen im Hinblick auf 70 n. Chr. beantwortet, bei der dritten Frage hingegen deutlich macht, dass das Ende der Welt bei seinem Zweiten Kommen gemeint ist, sollte man meinen, dass er seinen Jüngern den chronologischen Sprung sehr deutlich macht, damit diese überhaupt eine Chance haben, das Gesagte auch richtig einordnen zu können. Immerhin redet Jesus hier zu seinen Jüngern und geht offensichtlich davon aus, dass diese vertehen, was er zu ihnen sagt.
Wenn wir uns allerdings den Text in Matthäus 24 anschauen, gibt es in den Versen 35 und 36 keine strukturellen oder inhaltlichen Merkmale, anhand derer deutlich würde, dass ein chronologischer Sprung von mehreren Jahrtausenden erfolgt. Dass bedeutet weiter auch, dass auch Matthäus bei der Niederschrift des Evangeliums keinen Hinweis darauf eingebaut hat, dass Jesus an dieser Stelle einen gewaltigen chronologischen Sprung macht. Matthäus hat dieses Evangelium geschrieben, damit seine Zeitgenossen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Warum hat er die Botschaft Jesu an dieser Stelle nicht deutlich gemacht? An den beiden anderen Evangelien sieht man ja deutlich, dass in gewissem Rahmen durchaus inhaltliche Anpassungen vorgenommen wurden. Oder hatte Matthäus die Botschaft, die er aufgeschrieben hat, selber nicht verstanden?
Wir können uns den Fragen der Jünger auf andere Weise nähern. Wir sehen ja ziemlich deutlich, dass die Fragen bei Markus und Lukas stark verkürzt wiedergegeben werden. Matthäus hat sein Evangelium für seine jüdischen Zeitgenossen aufgeschrieben. Er setzt an vielen Stellen großes alttestamentliches Vorwissen voraus. Entsprechend ist seine Sprache sehr »jüdisch«; bzw. benutzt stark die bildhafte und symbolträchtige Sprache des Alten Testaments.
Jesus hat ja in Kapitel 23 sehr deutlich gemacht, dass die Zerstörung des Tempels Gottes Gericht über das treulose Israel ist. Dabei ergeben sich für einen gläubigen und schriftkundigen Juden zwei Gedanken: Gericht steht immer im Zusammenhang mit einem Kommen Gottes. Gott sucht die Menschen heim, um sie zu richten. Das sehen wir zum Beispiel in Genesis 11 beim Turmbau zu Babel:
Da fuhr der HERR herab, um sich die Stadt und den Turm anzusehen, welche die Menschen erbauten. […] Auf! wir wollen hinabfahren und ihre Sprache dort verwirren, so daß keiner mehr die Sprache des andern versteht!«
Menge-Bibel
Der zweite Gedanke bezieht sich auf den Bund Gottes mit seinem Volk. Der Ausdruck dieses Bundes ist das Haus Gottes und der dort vollzogene Gottesdienst. Wenn Gott dieses Haus verlässt und - schlimmer noch - dieses Haus zerstört wird, ist der Bund mit Gott am Ende. Damit endet im jüdischen Denken ein bzw. das Zeitalter. Das Haus Gottes wurde im Alten Testament dreimal aufgebaut; davon zweimal wieder aufgebaut. Bei jedem Bau wurde gleichzeitig ein Bund zwischen Gott und dem Volk geschlossen. Jedesmal, wenn das Haus Gottes zerstört war, war ein Zeitalter am Ende und war ein Neuanfang notwendig.
Bei Markus und Lukas wird die zweite Fragae sehr direkt und eindeutig gestellt: »was ist das Zeichen, wann dies alles vollendet werden soll?« (Mk 3,14) Bei Matthäus wird diese Frage zweiteilig formuliert, und so die Gedankenwelt seiner jüdischen Hörerschaft aufgegriffen: was ist das Zeichen deiner Ankunft und [der] Vollendung des Zeitalters? Diese Frage zielt also wie in Markus und Lukas die Fragen auf die Zeichen ab, die mit der Zerstörung des Temples einhergehen, formuliert diese jedoch entsprechend der Prägung seiner Hörerschaft.
Das bedeutet, in allen drei Evangelien finden wir zwei Fragen, nämlich nach dem Wann und den mit GEricht einhergehenden Zeichen. Diesen Standpunkt können wir dann folgendermaßen darstellen:
Frage | Matthäus | Markus / Lukas |
---|---|---|
1) |
Wann? |
Wann? |
2) |
Zeichen deines Kommens und der Vollendung des Zeitalters? |
Was ist das Zeichen, wann dies geschehen soll? |
Das wiederum würde bedeuten, die gesamte überlieferte Rede in den Kapiteln 24 und 25 bezieht sich auf Ereignisse innerhalb des ersten Jahrhunderts bis zur Zerstörung Jersualems und des Tempels. Diesen Standpunkt werde ich in den folgenden Kapiteln versuchen darzulegen und zu belegen.
Anhang A: Weitere Gerichtsankündigungen in Matthäus
Die Vorhersage eines Gerichts über das Volk Israel zieht sich wie ein roter Faden durch das Matthäus-Evangelium. Zu Beginn ist diese Ankündigung natürlich noch unkonkret, aber von Beginn an richtet sie sich schon gegen die zur Zeit Jesu lebende Generation, die durch ihren Ungehorsam gegenüber dem Sohn Gottes das Maß für das Gericht voll gemacht hat (s. Mt 23,29-38).
Weitere Stellen, in denen es um das Gericht Gottes am Volk Israel geht:
-
Vorhersage des Gerichts durch Johannes den Täufer:
Als er aber viele der Pharisäer und Sadduzäer zu seiner Taufe kommen sah, sprach er zu ihnen: [Ihr] Otternbrut! Wer hat euch gewiesen, dem kommenden Zorn zu entfliehen? […] Schon ist aber die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum nun, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
— Matthäus 3,7.10 -
Im Zuge der Begegnung mit dem Hauptmann von Kapernaum sagt Jesus über das Volk Israel:
Ich sage euch aber, dass viele von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tisch liegen werden in dem Reich der Himmel, aber die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen werden in die äußerste Finsternis: Dort wird das Weinen und das Zähneknirschen sein.
— Matthäus 8,11.12Im Verlauf des Matthäusevangeliums konkretisieren sich diese Ankündigungen dann immer weiter. Den Höhepunkt finden sie dann wie oben besprochen in den Kapiteln 23 und 24.
Anhang B: Diese Generation
Das in den deutschen Übersetzungen mit Geschlecht oder Generation wiedergegebene Wort ist das griechische Wort genea, welches folgende Bedeutungen haben kann:
-
Generation, die eigene Art oder Rasse, Nachkomme (generation, one’s own kind or race, descendant)
-
Bildlich: Zeitalter, Zeitperiode (wie in »to all generations«)
Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über alle Stellen, in denen im Neuen Testament das Wort genea verwendet wird. Ein Schwerpunkt in der Verwendung bilden offensichtlich die Evangelien. Die kursiv angegebenen Stellen enthalten die Wortkombination diese Generation, die auch in Matthäus 24 vorkommt. In den beiden rechten Spalten ist jeweils angekreuzt, ob sich das Wort auf eine konkrete Generation bezieht oder ob das Volk Israel im Allgemeinen im Sinne von Geschlecht gemeint ist.
Vers | Eine bestimmte Generation | Volk Israel allgemein |
---|---|---|
Mt 1,17 |
x |
|
Mt 11,16 |
x |
|
Mt 12,39 |
x |
|
Mt 12,41 |
x |
|
Mt 12,42 |
x |
|
Mt 12,45 |
x (im Kontext wahrscheinlicher, aber beides möglich) |
(x) |
Mt 16,4 |
x |
|
Mt 17,17 |
x |
|
Mt 23,36 |
? (fragliche Stelle) |
|
Mt 24,34 |
? (fragliche Stelle) |
|
Mk 8,12 (2x) |
x |
|
Mk 8,38 |
x |
x (beides möglich) |
Mk 9,19 |
x |
|
Mk 13,30 |
? (fragliche Stelle) |
|
Lk 1,48 |
x |
|
Lk 1,50 |
x |
|
Lk 7,31 |
x |
|
Lk 9,41 |
x |
|
Lk 11,29 |
x |
|
Lk 11,30 |
x |
|
Lk 11,31 |
x |
|
Lk 11,32 |
x |
|
Lk 11,50 |
x |
|
Lk 11,51 |
x |
|
Lk 16,8 |
x |
|
Lk 17,25 |
x |
|
Lk 21,32 |
? (fragliche Stelle) |
|
Apg 2,40 |
x |
|
Apg 8,33 |
(weder noch, AT-Zitat) |
|
Apg 13,36 |
x |
|
Apg 14,16 |
x |
|
Apg 15,21 |
x |
|
Eph 3,5 |
x |
|
Eph 3,31 |
x |
|
Phil 2,15 |
x |
x |
Kol 1,26 |
x |
|
Heb 3,10 |
x |
In den Evangelien und vor allem auch im Matthäus-Evangelium wird das Wort, das im Deutschen mit Geschlecht oder Generation übersetzt wird, vor allem benutzt, um eine Gruppe Menschen zu bezeichnen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gelebt haben. Vor allem Matthäus verwendet das Wort überwiegend in dieser Bedeutung. Aus Gründen der Stimmigkeit sollte man davon ausgehen, dass Matthäus und die anderen Evangelisten ein Wort eher mit konstanter Bedeutung verwendet haben.
In Matthäus 24 hat das Wort genea bereits durch die vorherigen Kapitel einen starken Kontext. Dieser ist – wie man der Tabelle oben entnehmen kann – überwiegend im Sinne einer bestimmten, zeitlich abgegrenzten Gruppe von Menschen. Daher liegt es nahe, auch in Matthäus 24 von dieser Bedeutung auszugehen. Das bedeutet, es geht um ein Gericht, dass die zur Zeit Jesu lebende Generation (diese Generation) noch erleben würde.