Galiläa der Nationen (4,15)

Galiläa der Nationen (4,15)

Peter Leithart, 27.02.1991

Matthäus berichtet, dass Jesus sich nach Galiläa »zurückzog«, um dort sein öffentliches Wirken zu beginnen, nachdem er »gehört hatte, dass Johannes überliefert worden war« (Mt. 4,12). Der typisch sachliche Stil des Matthäus verschleiert den wirklich bemerkenswerten Charakter des Rückzugs Jesu. Matthäus stellt Jesus als den Messias vor, den Nachkommen Abrahams und Sohn Davids (1,1.16), Immanuel (1,23), den König der Juden (2,2), Gottes Sohn (2,15; 3,17; 4,3.6), den, der mit Geist und Feuer tauft (3,11ff.) – kurzum als die Erfüllung aller alttestamentlichen Typen und Prophezeiungen.

Doch dieser Messias verbringt einen großen Teil seines Lebens in Galiläa, dem Galiläa der Heiden (4,15). Das als Galiläa bekannte Gebiet war Teil des unter der Führung Josuas eroberten Landes und wurde den Stämmen Sebulon und Naftali zugesprochen. Im 8. Jahrhundert v. Chr. wurde das Land von den Assyrern erobert, viele der Einwohner wurden ins Exil verschleppt und die Region wurde mit Heiden neu besiedelt. Trotz eines Versuchs im zweiten Jahrhundert v. Chr., die Bevölkerung zwangsbeschneiden und bekehren zu lassen, blieb es eine religiös und ethnisch gemischte Provinz. Jesus entschied sich zu Beginn seines öffentlichen Wirkens, sich auf diese Gegend zu konzentrieren.

Wie kann das sein? Kann etwas Gutes aus Galiläa kommen? Matthäus, der offensichtlich für ein jüdisches Publikum schrieb, musste die Bewegungen Jesu anhand der alttestamentlichen Schriften verteidigen. Er musste zeigen, dass das Wirken Jesu in Galiläa selbst eine Erfüllung der Prophezeiung war. Das ist der Zweck von Matthäus' Zitat aus Jesaja 9,1 in Matthäus 4,15-16; diese Verse zeigen, dass der Messias ein Licht unter den Heiden in den Regionen Sebulon und Naftali sein sollte.

Doch wie üblich wirft die Verwendung des Alten Testaments durch Matthäus für den modernen Leser schwierige Fragen auf. Zwar wird in Jesaja 9,1 das Land Sebulon und Naftali erwähnt, aber Jesaja 9,1 sagt nichts darüber aus, dass der Messias in dieser Region reist und lebt. Dieser Einwand lässt sich recht einfach beantworten. Der Messias ist schließlich das wahre Licht (Joh 1,9) und sollte gerade für die Heiden ein Licht sein (Lk 2,32). Darüber hinaus blickt Jesaja in Kapitel 9,6-7 offensichtlich auf den kommenden Messias voraus. Die messianische Prophetie geht ihm nie aus dem Kopf. Es ist daher angemessen, dass Matthäus Jesajas Prophezeiung zur Rechtfertigung von Jesu Wanderungen in das Land Sebulon und Naftali heranzieht.

Vielleicht können wir aber auch einen tieferen Zusammenhang zwischen Prophezeiung und Erfüllung herstellen. Ein Blick auf den Kontext von Jesaja 9 zeigt, dass es sich in erster Linie um eine Prophezeiung der Befreiung Israels von der assyrischen Unterdrückung handelt. Der Herr verspricht, das Joch des Unterdrückers durch eine blutige Schlacht zu zerschlagen. Im Zusammenhang mit dieser Schlacht wird die Geburt des Kindes prophezeit, das als mächtiger Krieger Israel von seinen Unterdrückern befreien wird.

Was hat dieser Zusammenhang mit dem Wirken Jesu in Galiläa zu tun? In welchem Sinne ist der Rückzug Jesu nach Galiläa die Erfüllung einer Prophezeiung über die Befreiung Israels von Assyrien? Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen wir uns den Kontext im Matthäusevangelium vergegenwärtigen. Der Rückzug Jesu fand unmittelbar nach seiner Versuchung statt (4,1-11). Jesus, der letzte Adam und das wahre Israel, hatte den Kampf mit Satan gewonnen. Die Versuchung war der Beginn des Feldzugs Jesu, um den Feind seines Volkes zu besiegen und es aus der Sklaverei zu befreien, die Gott ihm zu Recht wegen seiner Sünden auferlegt hatte. So folgt sein Rückzug nach Galiläa auf seinen Triumph über den Unterdrücker. Nachdem Jesus dem Satan eine erste Niederlage zugefügt hatte, ging er nach Galiläa, um seinen Sieg und die kommende Fülle des Reiches zu verkünden. Der Sieg Jesu über Satan war die Realität, von der der Sieg des Herrn über Assyrien nur ein schwacher Schatten war.

Peter Leithart ist Präsident des Theopolis Instituts.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf Biblical Horizons und wurde auf Theopolis Institute wieder veröffentlicht. Die Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Theopolis Institute durch Tilmann Oestreich.