Die literarische Struktur und Typologie in Matthäus

Die literarische Struktur und Typologie in Matthäus

Tilmann Oestreich, 13.04.2020

Von Norden nach Süden

Der erste Teil des Buches spielt nahezu komplett in Galiläa. Im zweiten Teil des Buches finden wir die Jesus' Reise nach und seinen Aufenthalt in Jerusalem. Dieser Teil startet mit Jesu Ankündigung in Kapitel 16 Vers 21, nach Jerusalem zu reisen. Im Evangeliumsbericht nach Matthäus sieht es daher so aus, als sei der Jerusalemaufenthalt in Jesu letzten Lebenswoche gleichzeitig auch sein erster Besuch in Jerusalem bzw. Judäa gewesen. Markus berichtet uns dies mit der gleichen Struktur. Auch bei Lukas finden wir diese Struktur, der Reisebericht ist dort jedoch ausgedehnter. Nur aus dem Johannesevangelium wissen wir, dass Jesus jedes Jahr zu den wichtigen Festen in Jerusalem war.

Durch diese Struktur lenkt Matthäus unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass der Prophet aus Galiläa in Jerusalem und Judäa mit Feindschaft aufgenommen wird. Der Vorwurf ist: Wie kann aus dem provinziellen, religiös kompromittierten Galiläa der Messias kommen? In Galiläa wiederum wird Jesus vergleichsweise wohlwollend wahrgenommen; zumindest bei den Volksmassen, die zu Jesus strömen, um ihn zu hören und von ihm geheilt zu werden.

  • Kontrast Galiläa und Judäa

    • Politisch: Schon sehr lange politisch voneinander unabhängige Gebiete

    • Geographisch: Getrennt durch das heidnische Samaria

    • Ethnologisch: Judäa ist rein, Galiläa durchmischt (es gibt konservative und hellenistische Ecken)

    • Ökonomisch: Galiläa hat sehr viel fruchtbarere Böden und reiche Fischgründe; Neid seitens derer in Judäa

    • Kulturell: Juden haben auf die Galiläer mit Verachtung geschaut, sie waren ihnen nicht jüdisch genug und zu offen gegenüber hellenistischen Einflüssen.

    • Sprachlich: Man wurde als Galiläer sofort an der Aussprache erkannt.

    • Religiös: Galiläer wurden als lau/lax in ihrer religiösen Praxis angesehen; Jerusalem als religiöses Zentrum war in Galiläa weit weg.

Es gibt hinsichtlich der Geographie der Ereignisse eine Besonderheit in Matthäus: die Rückkehr nach Galiläa ganz am Ende des Evangeliums nach der Auferstehung. Jesus trifft in diesem Evangelium seine Jünger in Galiläa wieder. Alle anderen Evangeliun enden in Jerusalem.

Typologie und die »Damit-erfüllt-würde«-Formel

Matthäus stellt uns Jesus als die Erfüllung des Alten Testaments vor (Personen, Ereignisse, das Gesetz, Muster). Typologie ist bei Matthäus im Vordergrund wie bei keinem anderen der Evangelisten. Wir finden daher bei Matthäus soviele direkte Zitate aus dem Alten Testament wie bei keinem anderen der Evangelisten. Es finden sich mindestens 40 direkte Zitate, die als solche direkt ersichtlich sind[1]. Das UBS Greek New Testament gibt sogar 54 direkte Zitate aus dem Alten Testament und zusätzlich noch 262 Anspielungen und Anlehnungen an[2].

Bei einem Teil dieser Zitate wird uns explizit mitgeteilt, dass Jesus die Erfüllung der Propheten ist. Diese werden dann oft mit einer für Matthäus typischen Standardformel eingeleitet, wie wir sie zum ersten Mal direkt im ersten Kapitel finden:

Dies alles geschah aber, damit erfüllt würde, was von [dem] Herrn geredet ist durch den Propheten, der spricht …​

— Matthäus 1,22

Diese Formulierung kommt so oder in ähnlicher Form insgesamt zehnmal in Matthäus vor: 1,22; 2,15; 2,17; 2,23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; 27,9. Es gibt eine weitere Stelle, die in der Regel auch dazugeählt wird, auch wenn die Formulierung dort deutlich abgeändert ist: 2,5 (Sie antworteten ihm: »Zu Bethlehem in Judäa; denn so steht bei dem Propheten geschrieben: …​«). Hier wird der Verweis auf die Erfüllung der Propheten in die direkte Rede der Schriftgelehrten Jerusalems eingebettet.

Zusätzlich zu diesen sehr prägnanten Stellen gibt es mindestens fünf weitere Stellen, in denen das Zitat aus dem Alten Testament auch ohne diese Einleitungsformulierung uns offensichtlich mitteilen soll, dass Jesus die Erfüllung der Propheten ist (3,3; 11,10; 13,14-15; 15,7-9; 21,42).

Darüberhinaus ist Matthäus wie oben schon gesagt voll von Anspielungen und Andeutungen auf das Alte Testament, die nicht als direkte Zitate gekennzeichnet sind. Mit diesen Anspielungen zeigt uns Matthäus wie Jesus die typologische Erfüllung vieler Aspekte des Alten Testaments ist und dieses gleichzeitig bei weitem übertrifft. Dazu unten mehr.

Die Reden im Matthäus-Evangelium

Im Evangelium gibt es insgesamt fünf Blöcke, in denen konzentriert Jesu Reden wiedergegeben werden. Diese Reden/Predigten sind in dieser Form ein einzigartiges Feature dieses Evangeliums. In den anderen synoptischen Evangelien kommen diese nicht in dieser konzentrierten Weise vor; meist auch nicht in diesem Umfang.

Die Reden werden mit für diese Blöcke einmaligen Formulierungen abgegrenzt. Jeweils am Ende dieser Blöcke finden wir: Und es geschah, als Jesus diese Reden vollendet hatte, …​ (7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1).

Die fünf Redeblöcke sind strukturell eine Analogie zum Pentateuch. Allerdings ist die Beziehung nur strukturell; inhaltlich lassen sich die fünf Reden Jesu und die fünf Bücher des Pentateuch nicht in einen vernünftigen Zusammenhang bringen. Aber schon anhand der Struktur seines Buches zeigt uns Matthäus, dass Jesus eine neue Ordnung der Realität in dieser Welt schafft. Er baut ein neues Königreich. Dies ist ja das große Thema des Pentateuch: Gott erwählt sich ein Volk und schafft mit diesem eine Neuordnung der Welt, die sich um Sein Heiligtum zentriert.

Die Typologie der chiastischen Anordnung

Matthäus lässt narrative Abschnitte und die Predigten Jesu sich abwechseln:

# Typ Kapitel Ort

E

Mt 1-4

1

P

Mt 5-7

Berg

E

Mt 8-9

2

P

Mt 10

Land

E

Mt 11-12

3

P

Mt 13

Wasser

E

Mt 14-17

4

P

Mt 18

Land

E

Mt 19-22

5

P

Mt 23-25

Berg

E

Mt 26-28

Gerade an der ersten und letzten Rede Jesu sieht man recht schnell, dass diese Blöcke einen inhaltlichen Chiasmus bilden:

Kap. 8

Bergpredigt

8 Segnungen (Glückselig sind die, …​)

»Wer ist im Königreich?«

Kap. 23-25

Ölbergrede

7 Wehe (Wehe euch ihr …​)

»Wer ist nicht im Königreich?«

An dieser Stelle soll dieser inhaltliche Chiasmus nicht weiter ausgearbeitet werden. Dies bleibt späteren Artikeln vorbehalten.

Die Anordnung der Reden enthält auch einen Chiasmus hinsichtlich der Orte, an denen Jesus seine Reden hält; ein geographischer Chiasmus:

  • A Kap. 5-7 – Bergpredigt – BERG

    • B Kap. 10 – Aussendung der Zwölf – LAND

      • C Kap. 13 – Geheimnisse des Königreichs – WASSER

    • B' Kap. 18 – Regeln für die neue Gemeinde – LAND

  • A' Kap. 23-25 – Ölbergrede – BERG

Mit diesem geographischen Chiasmus zeigt Matthäus uns schon in eindrucksvoller Weise, was das zentrale Motiv in Jesu Leben ist. Er ist aus der Herrlichkeit des Himmels (Berg) als Mensch auf die Erde herabgestiegen (Land), um den Tod (Wasser) zu schmecken. Danach kommt er von den Toten zu den Lebenden zurück (Land) und kehrt zu seinem Vater in die Herrlichkeit des Himmels zurück und wird dort gekrönt (Berg).

Das zentrale Kapitel in Matthäus ist Kapitel 13: Die Gleichnisse über das Geheimnis des Königreichs. Indem Matthäus die Orte der Reden Jesu chiastische anordnet und dieses Kapitel (Wasser) mit dem Tod Jesu typologisch verknüpft, zeigt er uns auf ganz subtile und doch herausragende Weise das Geheimnis des Königreichs: Der Tod des Messias und Seine Auferstehung!

Die Reden rekapitulieren den Alten Bund

Die Struktur der fünf Reden folgt sehr gut der Strukur des Alten Testaments:

Matthäus Altes Testament

Bergpredigt (Kap. 5-7)

Offenbarung am Sinai

Sendung der Zwölf (Kap. 10)

Deuteronomium: Vorbereitung zur Eroberung

Gleichnisse des Königreichs (Kap. 13)

Weisheit Salomos

Regeln für das Neue Israel (Kap. 18)

Geteiltes Königreich

Ölbergrede; Gerichtsankündigung (Kap. 23-25)

Propheten, Ende Judas und babylonisches Exil

Bis auf die vierte Rede in Kapitel 18 zeigen sich die Verbindungen zwischen den Reden Jesu und den entsprechenden Teilen des Alten Testaments ziemlich deutlich. Auf die vierte Rede müssen hier wir zur Erklärung kurz etwas im Detail eingehen.

Bei dieser Rede handelt es sich sozusagen um »Gemeinderegeln«. Es geht darum, Demut und Glaube zuhaben wie die Kinder. Jesus warnt davor, diesen Kleinen oder Geringen zu Fall zu bringen. Er legt dar, wie man mit Sünde unter Brüdern umgehen und dass ein Geist der Vergebung die neue Kirche prägen soll. Jesu Jünger sind ein Neues Israel innerhalb Israels; diese neue Gemeinschaft soll sich gegenüber den »Heiden« abgrenzen.

Das verwendete Wort »ekklesia« (Mt 16,18; 18,17) wird in der LXX[3] verwendet, um die Versammlung Israels zu beschreiben (siehe Dtn 4,10).

Wo liegt nun die Verbindung zur Epoche des geteilten Königreiches? Die herausragenden Figuren dieses Abschnitts in Israels Geschichte waren Elia und Elisa. Ein zentraler Punkt vor allem des Wirkens Elisas war die Sammlung eines treuen Überrests; die Bildung eines neuen Israels innerhalb des abgefallen Israels unter der Herrschaft der omridischen Dynastie.

Und in dieser Weise spiegelt die Rede Jesu in Kapitel 18 die Sammlung eines treuen Überrestes – eines Neuen Israels – inmitten der abtrünnigen Generation unter der Herrschaft der Herodianer, der Pharisäer und Sadduzäer wider.

Durch diese Struktur der Rekapitulation macht Matthäus deutlich: Jesus ist das Neue Israel.

Jesus ist das Neue Israel

Schon die im vorherigen Abschnitt vorgestellte Struktur der Reden Jesu macht diesen Punkt durch die Rekapitulation des Alten Testaments deutlich. Aber auch mit den narrativen Teilen des Evangeliums baut Matthäus diese Typologie weiter aus.

Anfang und Ende des Evangeliums

Das Buch Matthäus zeigt uns Jesus wie er die gesamte Geschichte Israels unter dem Alten Bund rekapituliert. Von Mose bis zur Rückkehr aus dem Exil. Deshalb startet Matthäus sei Evangelium mit der Genesis und endet mit dem Buch der Chroniken; dieses Buch stand am Ende des jüdischen Kanons.

Thema Altes Testament

Anfang

Matthäus 1,1: Buch der Geschlechter (biblos geneseos)

Buch Genesis

Ende

Matthäus 28,18-20: Sendungsbefehl

2. Chronik 36,23: Befehl des Kyros

Die Struktur der beiden »Sendungsbefehle« ist komplett identisch. Matthäus kopiert am Ende des Evangeliums den Befehl des Kyros:

  • Aussage zur universellen Autorität.

    • Aussage bezüglich des Ursprungs der Autorität.

      • Der Befehl zu »gehen«.

Jesus ist ein Neuer Kyros, der dem Volk Israel Befreiung bringt. Es ist aber klar: Jesu Autorität und Macht ist viel größer als die des Kyros. Deshalb ist sein Sendungsbefehl auch universeller und umfassender.

Die narrativen Passagen

Matthäus 1-4: Von Genesis bis Sinai

  • Das Buch der Geschlechter (Genesis), ein Stammbaum.

  • Ein Josef, der einen Traum hat.

  • Die Geburt eines besonderen Kindes.

  • Ein grausamer König, der die jüdischen Babys töten lässt.

  • Das besondere Kind wird auf wundersame Weise gerettet und muss des nachts fliehen.

  • Jesus wird im Jordan getauft; er geht durch das Wasser.

  • Danach geht er 40 Tage in die Wüste/Wildnis und wird dort vom Teufel versucht.

  • Er steigt auf einen Berg und bringt dem Volk das Gesetz Gottes. Er legt ihnen die Wahl zwischen Leben und Tod vor.

Matthäus 8-9: Von Sinai bis Josua

Wir finden eine markante Verbindung zwischen Matthäus und dem Pentateuch, und zwar die beiden nebeneinander gestellten Aussagen aus Matthäus und Numeri:

Matthäus Numeri

Als er aber die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und hingestreckt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. (9,36)

Der Herr, der Gott der Geister allen Fleisches, bestelle einen Mann über die Gemeinde, der vor ihnen her aus- und einzieht und der sie aus- und einführt, damit die Gemeinde des Herrn nicht sei wie Schafe, die keinen Hirten haben. (27,16-17)

Matthäus präsentiert uns in diesem Abschnitt eine Abfolge von zehn Wundern, die Jesus vollführt. Auch dies verankert diesen Abschnitt in der Zeit nach Sinai. Zum einen haben wir im Buch Exodus die zehn Plagen Ägyptens. Es besteht hier über die Zahl zehn ein gewisser Zusammenhang, aber die Wunder Jesu sind inhaltlich nicht wirklich mit den zehn Plagen verknüpft. Es handelt sich hier eher nicht um Antitypen der zehn Plagen.

Mit der Zahl zehn ist eine andere Typologie verknüpft. Das Volk Israel rebelliert nach dem Exodus zehn Mal (siehe Num 14,22). Die meisten dieser Rebellionen finden wir nach Sinai; die ersten ereignen sich aber auch schon davor. Matthäus weicht hier von dieser Struktur ab, indem er die zehn Wunder nach seinem Sinai-Ergeinis (der Bergpredigt) platziert.

Gleich der Beginn der Zehnerserien weist eine erstaunliche Parallelität auf. Das erste Wunder Jesu ist die Heilung eines Aussätzigen (8,1-4). Der erste Aufstand wird von Miriam angeführt, die gemeinsam mit ihrem Bruder Aaron die Autorität Moses in Frage stellt. Als Folge dessen wird sie mit Aussatz geschlagen und nach ihrer Buße von diesem geheilt.

So wie Miriam hier geheilt wird, folgen auf viele der Rebellionen Wunder (Miriam wird wieder geheilt; Gott schickt Mana vom Himmel; der Wind treibt Rebhühner heran; der Blick auf die eherne Schlange heilt; …​). Dies alles sind Gnadenerweise Gottes gegenüber dem hartherzigen und widerspenstigen Volk.

Matthäus weicht in seiner Typologie oft in überraschenderweise von den Mustern des Alten Testaments ab (zum Beispiel finden wir den Neuen Pharaoh als Herodes auf dem Thron Israels; Israel ist das neue Ägypten). Und so finden wir bei Matthäus nur die Wunder. Jesus ist nicht in erster Linie der Richter des abtrünnigen Volkes sondern begegnet ihnen mit Gnade. Die Gnade Gottes wird durch Matthäus' Komposition in den Mittelpunkt gerückt.

Die Typologie der Wunder Jesu wird durch die Perspektive der zitierten Propheten noch erweitert. In Matthäus 8,17 wird Jesaja 53 wiedergegeben (der Knecht wird Gebrechen und Krankheiten des Volkes tragen) und später in 11,4-5 wird Jesaja 35 zitiert (Blinde sehen, Taube hören, Stumme reden Lahme gehen). Vor allem bei Jesaja 35 ist der Kontext interessant und sehr wichtig. Wir lesen dort folgendes:

Jauchzen sollen die Wüste und die Einöde, frohlocken soll die Steppe und aufsprossen wie ein Narzissenfeld! Sie soll in voller Blüte stehen und frohlocken, ja mit Jubel und Frohlocken! Die Herrlichkeit des Libanons wird ihr verliehen, die Pracht des Karmelgebirges und der Saron-Ebene: sie dort sollen die Herrlichkeit des HERRN sehen, die Pracht unsers Gottes. […​] Denn in der Wüste quellen Wasser hervor und Bäche in der Steppe; der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu Wassersprudeln.

— Jesaja 35,1-2.6-7
Menge-Bibel

Bei Matthäus finden wir also nicht nur einfach die Wüstenwanderung Israels. Er erweitert diese durch die prophetische Perspektive und die Erfüllung dieser Verheißungen in Jesus. Die Wüste soll jauchzen und in der Wüste werden Wasser quellen!

In Numeri 13 und 14 finden wir den Bericht der zwölf Kundschafter, die nach Kanaan ausgesandt werden. In Deuteronomium finden wir dann am Ende der 40 Jahre in der Wüste, wie Gott dem Volk durch Mose Anweisungen für die Eroberung des Landes gibt. So finden wir wie Jesus in Matthäus 10,5 seine zwölf Jünger in das Land aussendet. Sie sind seine neuen Kundschafter. Seine Rede in Kapitel 10 bereitet seine Jünger für ihre Mission vor.

Matthäus 11-12: Von Josua bis Salomo

Nach den Vorbereitungen zur Eroberung des Landes in Kapitel 10 befinden wir uns immer noch in der Welt von Numeri, Deuteronomium und Josua.

Matthäus zitiert in 11,10 den Propheten Maleachi, der sich wiederum auf Exodus 33,2 bezieht: und ich werde einen Engel vor dir hersenden. Ein Engel führt Isreal in das verheißenen Land. Diese Aufgabe hatte Johannes: Israel in das Land führen, aber Israel wollte ihm nicht folgen. Jetzt ist Jesus da und bietet ihnen ebenfalls Frieden an, aber auch ihm wollen sie nicht folgen.

Wenn die typologische Abfolge der Ereignisse die Geschichte Israels rekapituliert, müsste die Handlung jetzt von der Wüstenwanderung zur Eroberung des Landes kommen und dann in die Zeit des Königreiches münden, hin zur »Weisheit Salomos« in Kapitel 13.

In diesen Kapiteln finden wir eine sehr starke Betonung des Themas »Ruhe« und »Sabbat«. Das Wort »Sabbat« kommt insgesamt zehnmal in Matthäus vor, davon alleine achtmal in Kapitel 12.

Das Thema Ruhe, Frieden bzw. Sabbat ist ein zentrales Thema der Eroberung des Landes. Wegen Israels Rebellion konnte Mose niemals das Land betreten; er konnte nicht in die Ruhe eingehen. Die ungehorsame Generation kam niemals in die verheißene Ruhe (s. Ps 95). Israel ist im Land Ruhe vor den Feinden verheißen (Dtn 12,10) und die Aufrichtung des Heiligtums im Land ist das Zeichen dieser verheißenen Ruhe (s. Dtn 12). Unter Josua wird das Volk in diese Ruhe geführt, das Heiligtum wird unter diesem in Silo aufgerichtet (Jos 18,1-7).

Jesus hat die zehn Rebellionen Israels in ihr Gegenteil verkehrt und kann nun deshalb die wahre Sabbatruhe anbieten, die sein Namensvetter Josua nur in schwacher Form antizipiert hatte.

Die vollständige Ruhe erreicht Israel erst unter David und Salomo. Unmittelbar nach Josuas Tod folgt erst noch das Chaos zur Zeit der Richter. Über David lesen wir: »Als der König in seinem Haus wohnte und der Herr ihm ringsumher Ruhe verschafft hatte vor allen seinen Feinden.« (2Sam 7,1; siehe auch Vers 11) Dieser Frieden hielt auch noch unter Salomo (1Kön 5,4). Und dieser Friede findet seinen höchsten Ausdruck in der Errichtung des Tempels unter Salomo.

Jesus ist also nicht nur ein Neuer Josua, sondern auch ein Neuer David und der Neue Sohn Davids, ein Neuer Salomo. Die David-Typologie finden wir explizit bei der ersten Auseinandersetzung mit den Pharisäern um das Pflücken von Ähren am Sabbat (12,1-4). Die Rollenverteilung macht Matthäus ziemlich deutlich

  • Die Pharisäer übernehmen die Rolle Sauls oder des Edomiters Doeg.

  • Die Jünger spielen die Rolle von Davids Gefährten.

  • Jesus ist David.

So wie David beim Volk sehr beliebt war und von Saul verfolgt wurde, so ist auch Jesus beim Volk beliebt und wird von den Führern Israels abgelehnt und bekämpft.

In Kapitel 12 wird die Salomotypologie ganz explizit: Jesus sagt, das er größer ist als der Tempel (12,6) und als Salomo (12,42). Und im Anschluss an diese Worte kommen wir zu den Weisheiten des Neuen Salomos in Kapitel 13.

Matthäus 14-17: Die Zeit des geteilten Königreiches

Direkt nach den Gleichnissen des Königreiches berichtet Matthäus von der Enthauptung des Johannes durch Herodes. Dieser ist ein Neuer Ahab, seine Frau ist die Neue Isebel. Die Isebel des Alten Testaments hatte ihren Mann auch zur Verfolgung und Hinrichtung der Propheten und besonders Elias angestiftet.

Im Kontrast dazu sehen wir die Herrschaft Jesu. Während Herodes-Ahab auf Betreiben seiner Frau bei seinem Festmahl Johannes' Haupt servieren lässt, ernährt Jesus 5000 Männer (plus Frauen und Kinder) mit nur 5 Broten und 2 Fischen (14,13-21). Wir finden in diesem Zusammenhang eine neue Passah-Exodus Sequenz: Erst die Speisung der Volksmenge, danach geht Jesus bei Nacht über das Wasser, um seine Jünger im Boot zu treffen. Diese Sequenz wird im Folgenden Kapitel wiederholt (Speisung der 4000 und nochmal der nächtliche Gang über den See). Hier sehen wir wieder ein Mose-Typologie, aber mit dem Herodes-Kontext wird uns Jesus hier als ein Anti-Herodes bzw. Anti-Ahab, das Haupt des Neuen Israels, präsentiert. In Jesus ist diese dunkle Stunde Israels überwunden.

Wir sehen Jesus also als den wahren Hirten (König), gleichzeitig aber auch als den wahren Propheten. Elia wird in Matthäus insgesamt neun Mal erwähnt, davon sechs Mal in den Kapiteln 16 und 17. Wir befinden uns damit typologisch in der Zeit des geteilten Königreiches (also in der Mitte des Buchs Könige).

Elia verlässt Israel an einem gewissen Punkt und geht nach Sidon und wohnt dort bei einer Witwe. Er erweckt ihren Sohn von den Toten und versorgt sie und ihren Sohn mit Nahrung (1Kö 17,9-24). Auch Jesus verlässt das Land und geht in die Gegend von Sidon und trifft dort eine Frau, die ihn wegen ihrer besessenen Tochter um Hilfe bittet. Nach anfänglicher Zurückweisung gewährt Jesus ihre Bitte aufgrund ihres großen Glaubens. (15,26-28)

Auch wenn Jesus uns hier typologisch als Elia gezeigt wird, ist hauptsächlich Johannes der Neue Elia. Er ist Jesu Vorläufer, so wie Elia Elisa vorhergangen ist. In diesem Sinne ist Jesus als der Nachfolger Johannes' in erster Linie ein Neuer Elisa. Während Elia ein einsamer Prophet war, versammelte Elisa eine Gruppe von Propheten um sich. So sammelt auch Jesus seine Jünger um sich.

Ein immer wiederkehrendes Thema bei Elisa ist das Thema Essen. Viele seiner Wunder und seiner Handlungen drehen sich um das Thema Nahrung:

  • Er heilt Jerichos Wasser. (2Kö 2,19-22)

  • Er versorgt die Söhne der Propheten mit Nahrung. (2Kö 4,38-41)

  • Er vermehrt Brotlaibe, um die Volksmenge zu versorgen. (2Kö 4,42-44)

  • Er gibt den aramäischen Soldaten Brot. (2Kö 6,20-23)

  • Er kündigt das Ende der Hungersnot während der Belagerung Samarias an. (2Kö 7,1.18-20)

Jesu gesamter Dienst ist durch Essen und Trinken charakterisiert (siehe Mt 11,19). Aber in den Kapiteln 14-16 nimmt dieses Thema nochmal eine zentralere Bedeutung ein. Das Wort αρτος (artos, Brot oder Brotlaib) kommt in Matthäus 21 Mal vor. Davon allein in diesen drei Kapiteln 15 Mal.

  • Wir finden hier die Speisung der 5000 (14,13-21) und 4000 (15,32-39).

  • In der Auseinandersetzung mit den Pharisäern geht es in diesem Abschnitt um Reinigungrituale vor dem Essen. (15,1-2)

Eine der wichtigsten Stellen in diesem Abschnitt ist die Verklärung Jesu auf dem Berg (17,1-13), die durch die auftauchenden Personen ebenfalls unmittelbar mit Elia (und damit implizit auch Elisa) verknüpft ist. Eine weitere wichtige Stelle ist Petrus' Bekenntnis. (16,13-20) Dort nennt Petrus Jesus explizit den Gesalbten (=Christus bzw. Messias). Interessanterweise ist Elisa der einzige Prophet, von dem explizit gesagt wird, dass er gesalbt wird. (1Kö 19,16)

Es gibt also viele Aspekte in dem Leben Jesu, die ihn typologisch mit Elia und noch stärker mit Elisa verbinden. Jesus ist der Neue Elisa.

Matthäus 19-22: Die Zeit der Propheten

In dieserm Abschnitt kommt es zu einem Ortswechsel von Galiläa nach Judäa. Das Nordreich ist in die Hände Assyriens gefallen, es bleibt nur noch Juda. Dorthin wendet sich Jesus nun als Prophet.

Seine Ankunft in Jerusalem aber ist typologisch Jehus Sturm auf Samaria. Jehu wurde von Elisa zum König gesalbt[4]. Sowohl vor Jesus (21,8-9) als auch vor Jehu (2Kö 9,13) werden Kleider ausgelegt und sie werden beide von der Volksmenge als König ausgerufen. Jehu zerstört nach seiner Machtübernahme den Baalstempel in Samaria (2Kö 10,18-28) und auch Jesus geht nach seiner Ankunft in Jerusalem direkt in den Tempel und reinigt diesen. (21,12-13)

Beim triumphalen Einzug in Jerusalem schwingen eindeutig königliche Töne mit (siehe 21,5). Aber nach der Ankunft in Jerusalem proklamiert das Volk: »Dies ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa!« (21,11, Hervorhebung hinzugefügt). In den folgenden Kapiteln sehen wir Jesus den Prophet der Apokalypse im Tempel. Dies verbindet Jesus mit den Propheten der Spätphase Judas, insbesondere Jeremia. Dieser prophezeite den Untergang des Tempels und Jerusalems im Tempelhof. (Jer 7,2.12-15.26)

Wir finden zum Beispiel folgende inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Wirken Jesu und Jeremia:

  • Der Feigenbaum (Mt 21,18-22; Jer 8,12)

  • Das Gleichnis von den Weingärtnern (Mt 21,33-41; Jer 12,10-11 und Jes 5)

    • In diesem Abschnitt finden wir alle 10 Stellen, in denen Matthäus das Wort Weinberg verwendet.

    • Jeremia war der einzige Prophet des Alten Testaments, von dem berichtet wird, dass er geschlagen wurde (Jer 20,2). Dieses Motiv greift Jesus in diesem Gleichnis auf.

Jesus ist der Neue Jeremia, der das Ende des Tempels und Jerusalems vorhersagt.

Matthäus 26-28: Exil und Wiederherstellung

Auch in den letzten Kapitelm setzen sich die Jeremia-Anspielungen fort. Zusätzlich zu den Anspielungen zum Buch Jeremia finden wir aber auch solche zum Buch der Klagelieder Jeremias[5]. Jesus ist nicht mehr nur der leidende Prophet sondern die Verkörperung der leidenden Stadt, die ihrer Bewohner beraubt ist.

Jesus wird heidnischen Mächten überliefert so wie Israel den babylonischen Armeen preisgegeben wurde. Jesus erleidet das Exil und die Wiederherstellung Israels durch seinen Tod und die Auferstehung am eigenen Leib. Die Auferstehung ist die Rückkehr aus dem Exil. Wenn wir hierzu konkrete Analogien im Alten Testament suchen, stellen wir fest, dass es dort nur wenige Aufertehungstexte gibt. Einen der wenigen – dafür umso bekannteren – finden wir in Hesekiel 37: Die Vision der Knochengebeine, die wieder zum Leben erweckt werden. Dies ist eine Prophetie über Israels Wiederherstellung aus dem Grab.

Zusammenfassung

Jesus rekapituliert die Geschichte Israels. Dabei ist er aber im Gegensatz zum alten Israel in allem gerecht und fällt in den Versuchungen nicht. Seine Gerechtigkeit überwindet. Er ist der Held und Überwinder. Und deshalb sendet Er sein neues Israel, um diese Nachricht auch zu den Heiden zu bringen und aus zwei eins zu machen.

Bibliographie

Dieser Artikel basiert auf folgenden Quellen:

  • Das Video The Literary Genius of the Structure of Matthew’s Gospel aus dem Youtube Channel »The Bible Is Art« John Higgins.

  • Peter J. Leithart. The Gospel of Matthew Through New Eyes. Volume One: Jesus as Israel. Athanasius Press, 2017.

  • R. T. France. The Gospel of Matthew. The New International Commentary on the New Testament. Wm. Eerdmans Publishing Co., 2007.


1. William Hendriksen. Exposition of the Gospel According to Matthew, Seiten 81-82.
2. R.T. France. The Gospel of Matthew, Seite 10.
3. Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments.
4. Wie bei Elisa besteht die Verknüpfung hier auch über das Thema des Salbens bzw. Gesalbtseins. Jehu ist der einzige König des Nordreiches, der gesalbt wird (2Kö 9,6)
5. Vergleiche dazu zum Beispiel Mt 27,34 mit Klg 3,19 und Mt 27,39 mit Klg 2,15.