Die Datierung von Matthäus, Teil 2

Die Datierung von Matthäus, Teil 2

Ralph Smith, 29.11.2016

Im ersten Aufsatz dieser Reihe habe ich Argumente für eine Datierung von Matthäus vor 70 n. Chr. dargelegt, die dem derzeitigen wissenschaftlichen Konsens widersprechen. In diesem Aufsatz möchte ich kulturelle, persönliche, ekklesiologische und theologische Argumente für eine sehr frühe Datierung von Matthäus vorbringen.[1]

Das kulturelle Argument

Das kulturelle Argument betrifft die Alphabetisierung zur Zeit Jesu. Es gab eine Zeit, in der man weithin davon ausging, dass die Alphabetisierungsrate zur Zeit Jesu recht niedrig gewesen sei, was darauf hindeutet, dass Jesus selbst und seine Jünger wahrscheinlich Analphabeten gewesen wären. Die Forschungen des biblischen Archäologen Alan Millard – und auch anderer – widersprechen diesen Annahmen.[2] Archäologische und andere Beweise zeigen, dass Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu üblich waren. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Schüler berühmter Rabbiner im ersten Jahrhundert Notizen über die Lehren der Rabbiner machten, die kopiert und an andere Schüler verteilt wurden.

In einem solchen kulturellen Kontext ist es sehr wahrscheinlich, dass Matthäus – wenn auch nicht unbedingt Matthäus allein – Notizen über die Lehre Jesu gemacht und seine Wunder aufgezeichnet hat. Als Steuereintreiber hätte Matthäus aufgrund seines Berufs täglich schreiben müssen. Ist es vernünftig anzunehmen, dass er, als er ein Jünger desjenigen wurde, den er für den Messias hielt, nicht dem Brauch der Zeit folgte und sich Notizen über die Lehren und Taten seines Rabbi machte? Damals gab es sogar ein System der Stenografie, das in Gebrauch war. In Anbetracht des Glaubens und der Hingabe der Jünger an Jesus liegt die Vermutung nahe, dass einer oder mehrere von ihnen sich Notizen gemacht haben und dass sie diese Notizen gemeinsam nutzten.

In der Tat sollten wir auch davon ausgehen, dass andere außerhalb des engsten Kreises um Jesus Dinge aufgeschrieben haben, die Jesus gesagt hat. Außerdem hätte es bei einer so großen Menschenmenge, die Jesu Lehren hörte, schon zu Lebzeiten Jesu eine weit verbreitete »mündliche Überlieferung« gegeben. Wir haben keine erhaltenen Aufzeichnungen darüber, weil sie auf vergänglichem Material geschrieben worden wären, wie so viele der Aufzeichnungen des Römischen Reiches, die ebenfalls mit der Zeit untergegangen sind.

Das persönliche Argument

Die persönlichen und ekklesiologischen Argumente gehen mehr oder weniger Hand in Hand. Über Matthäus selbst wissen wir nur sehr wenig, denn abgesehen von der Geschichte seiner Berufung zum Dienst wird er nur in den Listen der Jünger erwähnt. Und in diesen Listen ist er eindeutig nicht der führende Mann unter ihnen, denn er taucht nicht ein einziges Mal unter den ersten sechs auf. Die Geschichte seiner Berufung in die Jüngerschaft wird jedoch in allen drei synoptischen Evangelien berichtet: Matthäus 9,9-13, Markus 2,13-17 und Lukas 5,27-32.

Obwohl Lukas die Geschichte der Berufung des Petrus ausführlicher erzählt als Matthäus oder Markus, wird der Berufung des Matthäus eine Bedeutung beigemessen, die angesichts seiner Stellung unter den Jüngern und des völligen Fehlens von Informationen über ihn außerhalb der Berufungserzählung schwer zu erklären ist. Wenn sein Evangelium, wie die kirchliche Überlieferung besagt, das erste und beliebteste war, ist die Betonung seiner Berufung natürlich angemessen.

Interessant für meine Argumentation ist, was uns die drei parallelen Berufungsgeschichten über Matthäus (bei Markus und Lukas Levi genannt) sagen. Obwohl Matthäus selbst die Geschichte etwas zweideutig wiedergibt, machen Markus und Lukas deutlich, dass Matthäus/Levi unmittelbar nach seiner Berufung ein großes Fest in seinem eigenen Haus abhielt und so viele Zöllner und Sünder einlud, wie er versammeln konnte. In seiner Großzügigkeit und seinem Mitgefühl war Matthäus ein wahrer Jünger des Messias, der gekommen war, um Sünder zur Umkehr zu rufen.

Das ekklesiologische Argument

Dies bringt mich zu dem damit zusammenhängenden ekklesiologischen Argument, das einfach darin besteht, dass von Beginn der Kirchenzeit an ein offensichtlicher Bedarf an einem geschriebenen Evangelium bestand. Die frühe kirchliche Tradition, dass Matthäus, der ernsthafte Evangelist, sein Evangelium ursprünglich in hebräischer/aramäischer Sprache geschrieben hat, passt gut zu dem Bild, das in der Apostelgeschichte gezeichnet wird. Am Pfingsttag ließen sich 3000 Juden aus dem ganzen Römischen Reich und darüber hinaus taufen. Die meisten von ihnen kehrten nach dem Fest in ihre Heimat zurück. Wir müssen davon ausgehen, dass nur wenige von ihnen genug von der Lehre Jesu wussten, um zu wissen, wie sie als Christen leben sollten.

Welcher Grund für eine Verzögerung würde einem großzügigen und leidenschaftlichen Jünger einfallen, der mit Sicherheit viele Aufzeichnungen über die Lehre Jesu hatte und in relativ kurzer Zeit ein »Evangelium« verfassen konnte? Würden nicht auch die anderen Jünger Matthäus ermutigen, ein Buch des Zeugnisses zu verfassen? Pfingsten ist der persönliche und ekklesiologische Auslöser, der Matthäus gezwungen hätte, zu schreiben und nicht zu zögern. Die rein jüdische Pfingstgemeinde von 30 n. Chr. brauchte das Buch des Matthäus.

Das theologische Argument

Das theologische Argument betrifft das Wesen der biblischen Offenbarung und den Auftrag der Jünger als Zeugen Jesu (Apostelgeschichte 1,8). Schon der Begriff »Zeuge« ist eine Idee des Bundes und des Rechts (1. Mose 21,30; 31,44.48.50.52; Deuteronomium 4,26; Josua 22,26-28; 24,27; 1. Samuel 6,18; Jesaja 30,8; 43,8-13; Jeremia 32,9-15; 42,5; Johannes 8,12-18; 15,26-27; 21,24). Die Bundeslade wird als Bundeslade des Zeugnisses bezeichnet, weil sie das »Zeugnis« der beiden Tafeln des Bundes enthielt (Exodus 16:34; 25:16, 21-22; 26:33-34; 27:21; 30:6, 26, 36; 31:7, 18; 32:15; 34:29). Die Stiftshütte selbst wurde »Stiftshütte des Zeugnisses« genannt (2. Mose 38,21).

Kurz gesagt: Die Jünger Jesu kannten die rechtlichen und vertraglichen Implikationen des Begriffs »Zeuge« und »Zeugnis«. Als die Jünger einen Ersatz für Judas Iskariot finden mussten, damit die Gründung des neuen Israels richtigerweise aus 12 Führern bestehen würde, war die Bedingung, dass es ein Mann sein sollte, der seit der Zeit Johannes des Täufers bis zur Auferstehung Jesu bei ihnen gewesen war. Apostel zu sein bedeutet, Augenzeuge zu sein, insbesondere der Auferstehung, aber auch des gesamten Wirkens Jesu (Apostelgeschichte 1,21-22).

Das Zeugnis des Bundes und die Zeugenschaft stehen im Mittelpunkt der literarischen Tradition des jüdischen Volkes. Seit der Zeit Moses wurde die Einweihung eines neuen Bundes immer von einer neuen Schrift begleitet.[3] In der Geschichte Israels bedeutet ein neuer Bund eine neue schriftliche Offenbarung – sowohl zur Zeit Davids und im Zusammenhang mit dem davidischen Bund als auch zur Zeit Esras und im Zusammenhang mit dem neuen Bund nach der Wiederherstellung der Juden im Land. Die Grenzen eines jeden »neuen Bundes« mussten in schriftlichen Dokumenten festgelegt und definiert werden. Die Geschichte, die mit dem jeweiligen Bund verbunden war, wurde als Zeugnis für das Handeln Gottes erzählt.

Beim letzten Abendmahl sagte Jesus zu seinen Jüngern, der Kelch, den er ihnen reichte, sei »mein Blut des Bundes«. Die Jünger müssen den Kelch mit einer gewissen Verwunderung entgegengenommen haben. Juden tranken kein Blut, schon gar nicht menschliches Blut. Natürlich wussten sie, dass es sich um eine Redewendung handelte, aber dass Jesus das Brot seinen Leib und den Kelch sein Blut nannte, muss schockierend gewesen sein. Nach Jesu Auferstehung und den 40 Tagen, in denen er sie lehrte, die ganze Heilige Schrift zu verstehen, hätten die Jünger die Bedeutung des letzten Abendmahls und die Tatsache, dass Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung einen wahrhaft neuen Bund eröffnet hatte, verstanden.

Sie hätten auch verstanden, dass der Neue Bund einer schriftlichen Offenbarung bedarf, die in erster Linie Jesus selbst bezeugt, aber auch die Grenzen des Neuen Bundes umreißt. Als an Pfingsten 3000 Juden getauft wurden, bestand offensichtlich ein Bedarf an einer Offenbarung des Neuen Bundes in schriftlicher Form, die an die neuen Gläubigen im ganzen Römischen Reich verteilt werden konnte. Es gab einen eifrigen Evangelisten namens Matthäus, der sich zweifellos Notizen über die Lehren und Wunder Jesu gemacht hatte. Was hätte ihn daran gehindert, sein Evangelium – wahrscheinlich in hebräischer/aramäischer Sprache, wie die frühe Überlieferung nahelegt – innerhalb weniger Monate nach Pfingsten zu schreiben? Schließlich war er ein auserwählter Zeuge, und Jesus hatte versprochen, dass der Geist, der ihnen zu Pfingsten gegeben werden würde, sie befähigen würde, von ihm Zeugnis abzulegen (Johannes 14,26; 15,26-27; 16,12-15). Was liegt da näher, als dass Matthäus genau das tun würde?

Zusammenfassung

Der kulturelle Hintergrund der Zeit des Matthäus legt nahe, dass es nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich war, dass er schon zu Jesus’ Lebzeiten Notizen gemacht hat. Seit Pfingsten gab es also persönliche, ekklesiologische und theologische Faktoren, die Matthäus dazu veranlasst hätten, das Zeugnis des Bundes in eine schriftliche Form zu bringen. Die Annahme, dass er 40 Jahre warten würde, bevor er zur Feder griff, ist zumindest ein grober Fehler in der Vorstellungskraft.

Ralph Smith ist Pastor der Evangelischen Kirche von Mitaka in Tokio, Japan.

Der Artikel erschien im Original auf der Seite des Theopolis Institute. Die Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Theopolis Institute durch Tilmann Oestreich.


1. Ich muss hier anmerken, dass ich James B. Jordan, »Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons: Ein revisionistischer Vorschlag« und Peter Leithart, »Die Rekapitulation des Bundes in der Geschichte des Neuen Testaments"« folge, obwohl sie nicht für meine leichtsinnige Phantasie verantwortlich gemacht werden sollten.
2. Alan Millard, Reading and Writing in the Time of Jesus (New York: NYU Press, 2000).
3. Für eine ausführlichere Erörterung dieses Themas siehe James B. Jordan, »Hermeneutischer Polytheismus«.