Wie werden die Nationen gerichtet?
Es gibt einen weiteren Punkt, der diese Stelle im Kontext des ersten Jahrhunderts verortet und das Thema des Richtens verstärkt. Jesus spricht von dem Thron [der] Herrlichkeit. Diesen Begriff finden wir in exakt dieser Form noch ein weiteres Mal in Matthäus:
Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns nun [zuteil] werden?
Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auch ihr werdet in der Wiedergeburt, wenn der Sohn des Menschen auf seinem Thron [der] Herrlichkeit sitzen wird, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.
An dieser Stelle spricht Jesus davon, dass seine Jünger mit ihm die Stämme Israels richten werden. Der Zeitpunkt ist »in der Wiedergeburt«. »Wiedergeburt« könnte auch mit »Erneuerung« übersetzt werden. In verschiedenen englischen Übersetzungen finden wir diese Variante auch. Die NIV übersetzt zum Beispiel mit »at the renewal of all things« und ASV und KJV übersetzen diese Stelle mit »in the regeneration«. Die spannende Frage ist, von welchem Zeitpunkt Jesus hier redet?
Wir modernen Leser gehen in der Regel automatisch davon aus, dass Jesus hier vom Ende der Welt redet. Aber muss dies zwingend so sein? Wenn wir den Fokus der Übersetzung weniger bei »Widergeburt« setzen sondern eher auf »Erneuerung«, könnte es doch sein, dass Jesus vom Kommen des Neuen Bundes spricht. Der Alte Bund, die Alte Kreatur, die Alte Schöpfung ist mit Jesu Kommen auf diese Welt an sein Ende angelengt. Jesus hat den Neuen Bund, eine Neue Kreatur, eine Neue Schöpfung ins Leben gerufen. Während Seines Lebens auf der Erde war der Alte Bund noch wirksam. Aber in Jesus und vor allem in Seinem Tod, Seiner Auferstehung und Seiner Himmelfahrt hat der Alte Bund seine Erfüllung gefunden und war damit nicht mehr notwendig. Der Alte Bund bestand in seiner äußeren Form trotzdem noch weiter, obwohl in und durch Jesus der Neue Bund – die Neue Schöpfung – schon Bestand hatte. Es gab eine Übergangszeit, in der beide Kreaturen nebeneinander Bestand hatten. Doch 70 n.Chr. wurde der Alte Bund dann endgültig inklusive aller seiner äußerlich sichtbaren Formen ein für alle Mal beendet. Damit war die Erneuerung abgeschlossen.
Wenn diese »Erneuerung« – also das endgültige Niederreißen des Alten Bundes und das Aufrichten des Neuen Bundes – kommt, werden die Apostel mit Jesus die zwölf Stämme Israels richten.
Die spannende Frage ist, wie die Jünger Jesu, die späteren Apostel, mit Jesus im Gericht sitzen werden. Hier kann uns die Verheißung, die Gott Abraham gegeben hat, die gesuchte Antwort geben.
Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.
Und ich will dich zu einer großen Nation machen und dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen; und du sollst ein Segen sein!
Und ich will die segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde!
Die Jünger sind als Juden Nachkommen Abrahams und damit auch Erben dieser Verheißung. In Matthäus 10 wendet Jesus dieses Prinzip an:
In welche Stadt aber oder in welches Dorf irgend ihr eintretet – forscht nach, wer darin würdig ist; und dort bleibt, bis ihr weggeht. Wenn ihr aber in das Haus eintretet, [so] grüßt es. Und wenn nun das Haus würdig ist, [so] komme euer Friede darauf; wenn es aber nicht würdig ist, [so] wende sich euer Friede zu euch zurück. Und wer irgend euch nicht aufnimmt noch eure Worte hört – geht hinaus aus jenem Haus oder jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen. Wahrlich, ich sage euch, es wird [dem] Land von Sodom und Gomorra erträglicher ergehen am Tag [des] Gerichts als jener Stadt.
Jesus schickt seine Jünger zu den »verlorenen Schafen des Hauses Israels« (Vers 6). Jede Stadt und jedes Dorf, in die die Jünger kommen, ist mit der Frage konfrontiert: »Wie nehme ich die Boten auf? Wie behandle ich diejenigen, die Gott geschickt hat? Höre ich auf ihre Worte?« An die Antwort auf diese Frage ist Segen oder Fluch geknüpft, ganz wie Gott es schon Abraham verheißen hat.
Wir finden hier ein typologisches Muster, das auch im ersten Jahrhundert zum Tragen kam. Am Ende des Matthäus-Evangeliums finden wir den Sendungsbefehl. Jesus schickt seine Jünger hinaus zu den Nationen, um die Gute Botschaft, das Evangelium, zu verkünden. Allen Völkern, denen die Jünger das Evangelium des Messias Jesus gebracht haben, waren mit genau den gleichen Fragen konfrontiert. Wie werden Sie die Jünger Jesu behandeln? Wie werden sie auf Ihre Botschaft reagieren? Gott beurteilt und richtet dementsprechend.
Dies gilt natürlich auch für das jüdische Volk des ersten Jahrhunderts nach Jesu Himmelfahrt. Wie haben die Juden die Apostel Jesu behandelt? Wie haben sie die Evangeliums-Botschaft aufgenommen? Die Antwort auf diese Frage finden wir in der Apostelgeschichte. Die Offenbarung beschreibt das Verhalten Israels als eine Hure, die sich mit dem Blut der Heiligen betrinkt. Deshalb kündigt Jesus in der Rede auf dem Ölberg in Matthöäus 24 und 25 die Zerstörung Jerusalems an.
Dieser »Mechanismus« ist es also, mit dem die Jünger Jesu, den Juden und den Nationen Segen oder Fluch gebracht haben. In diesem Sinne sind die Jünger Jesu mit Jesus im Gericht gesessen. Wie sich die Juden und die anderen Nationen ihnen gegenüber verhalten haben, war entscheidend für den Ausgang des Gerichts.
Dieses Muster hat natürlich im ersten Jahrhundert nicht sein Ende gefunden. Es wirkt bis heute. Jesus ist ein bzw. der Sohn Abrahams und als Kinder Gottes sind wir auch Kinder Abrahams und damit Erben der Verheißung Abrahams. Dass heißt, auch wir sind als Botschafter in diese Welt gesandt. Und auch wir fordern unsere Mitmenschen mit der Botschaft von Jesus Christus heraus und bringen daher Segen oder Fluch; abhängig davon, wie unser Gegenüber uns und unsere Botschaft aufnimmt. Auch wir haben also auf diesem Weg teil am Gericht über die Nationen.
Gericht im Haus Gottes
Schafe und Böcke sind beides sowohl reine Tiere und als auch Opfertiere. Und damit stehen beide Tiere auch als Symbole für das Erlösungswerk Jesu. Das Schaf finden wir als Lamm beim Passahfest. Den Bock finden wir als den Sündenbock, der am Großen Versöhnungstag in die Wüste geschickt wird. Dies sind beides Rituale, die typologisch auf Jesus und das, was er getan hat, hinweisen.
Mit den Schafen und Böcken greift Jesus hier die Prophetie aus Hesekiel 34 auf. Auch dort tauchen Schafe und Böcke auf und bilden den Hintergrund, vor dem wir Matthäus 25 sehen müssen. Das ganze Kapitel 34 sollte gelesen werden, hier vor allem die für unser Thema zentralen Verse ab Vers 17:
Und das Wort des Herrn erging an mich, indem er sprach: Menschensohn, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen, den Hirten: So spricht der Herr, Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
Ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle, das fette Vieh schlachtet ihr; die Herde weidet ihr nicht.
(…)
Und ihr, meine Herde, so spricht der Herr, Herr: Siehe, ich werde richten zwischen Schaf und Schaf, den Widdern und den Böcken. Ist es euch zu wenig, dass ihr die gute Weide abweidet und das Übrige eurer Weide mit euren Füßen zertretet und dass ihr das geklärte Wasser trinkt und das Übriggebliebene mit euren Füßen trübt? Und meine Schafe sollen abweiden, was mit euren Füßen zertreten, und trinken, was mit euren Füßen getrübt ist?
Darum, so spricht der Herr, Herr, zu ihnen: Siehe, ich bin da, und ich werde richten zwischen fettem Schaf und magerem Schaf. Weil ihr alle Schwachen mit Seite und Schulter verdrängt und mit euren Hörnern stoßt, bis ihr sie nach außen hin zerstreut habt, so will ich meine Schafe retten, damit sie nicht mehr zur Beute seien; und ich werde richten zwischen Schaf und Schaf.
Hesekiel bezeichnet Israel als die Herde Gottes und wendet sich im ersten Teil des Kapitels an die Hirten dieser Herde. Das sind die Führer Israels. Anstatt die Herde Gottes zu weiden, haben die Hirten auf Kosten dieser Herde gelebt. Deshalb wird Gott die Hirten strafen und kündigt an, die Herde selber zu weiden.
Im zweiten Teil des Kapitels wendet sich Gott jedoch an die Herde selbst: »Und ihr, meine Herde, so spricht der Herr« (Vers 17). Und hier taucht die Formulierung auf, auf die Jesus in Matthäus 25 zurückgreift. »Ich werde richten zwischen Schaf und Schaf, den Widdern und den Böcken.« Und danach folgt eine Auseinandersetzung mit den Übertretungen der Herde und der Ankündigung des Gerichts gegenüber der Herde selbst. Weil das Volk Gottes ungehorsam und untreu ist, wird Gott seine eigene Herde richten.
Wenn wir diesen Aspekt auf Matthäus 25 und die Situation im ersten Jahrhundert übertragen, stellt sich die Frage, ob Jesu hier vielleicht die Prüfung der Kirche selbst im Blick hatte. Es geht in diesem Gleichnis dann darum, dass die Prüfung und das Gericht zuerst bei Gottes eigenem Volk ansetzt. Der Rückgriff auf die Bilder aus Hesekiel 34 deutet auf diese Möglichkeit hin.
Dieser Gedanke passt auch zu Petrus' Aussage in seinem ersten Brief. Er spricht davon, dass das Gericht bei dem Haus Gottes anfängt.
Denn die Zeit [ist] gekommen, dass das Gericht anfange bei dem Haus Gottes; wenn aber zuerst bei uns, was [wird] das Ende derer [sein], die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen!
Das Thema hier in Matthäus 25 ist dann das Gericht Gottes an seiner eigenen Herde, um das wahre Volk Gottes von denen zu trennen, die nur vorgeben, Gottes Volk zu sein. Dies ist ein Muster, dass wir in der Geschichte immer wieder finden.
In den Tagen Noahs hat Gott die Treuen (Noah und seine Familie) und die Gottlosen (der Rest) voneinander geschieden. Der Exodus war ebenfalls ein Gericht, in dem Gottes Volk (Israel) und Nicht-Gottes-Volk (Ägypten) voneinander getrennt wurden. Nach dem Exodus gab es dann sogar noch eine zweite Stufe des Trennens. An der Grenze zum Land Kanaan zeigte sich, wer Gott wahrhaftig vertraut und wer nicht. Das Volk musste 40 Jahre in der Wüste umherziehen und eine ganze Generation verging. Die Wüstenwanderung war ein Mittel Gottes, die Hartherzigen auszuscheiden.
Dieses letzte Gleichnis in Matthäus 25 redet damit von denselben Dingen wie die Gleichnisse zuvor, allerdings unter einem ganz anderen Gesichtspunkt. Es ist sozusagen die andere Seite der Medaille. In den vorhergehenden Gleichnissen ht Jesus die Jünger auf eine lange Wartezeit, sozusagen auf eine Verzögerung, vorbereitet. Dieses letzte Gleichnis ist dann die Erklärung für die Verzögerung.
In Matthäus 24 hat Jesus angekündigt, dass Jerusalem gerichtet werden wird. Israel ist das neue Ägypten und wird bestraft.
Mit den »Wachsamkeits«-Gleichnisse im letzten Abschnitt von Matthäus 24 und in Kapitel 25 sagt Jesus dann: »Es wird eine Weile dauern, bis dieses Gericht kommt. Ich werde mich (aus eurer Wahrnehmung) verzögern. Seid wachsam und treu, bis es soweit ist!«
Im letzten Gleichnis ab Vers 31 erklärt Jesus dann den Grund für diese Verzögerung. Die Verzögerung hat das Ziel das wahre Gottesvolk hervorzubringen und das Böse aus dem Haus Gottes wegzutun.
Jetzt könnte man fragen: »Ist es nicht unfair, dass Jesus die Seinen so auf die Probe stellt? Muss das denn sein?« Eine mögliche Antwort darauf finden wir in Jesus selbst wie wir im Hebräerbrief lesen.
Wir sehen aber Jesus, der ein wenig unter [die] Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt – so dass er durch Gottes Gnade für alles [den] Tod schmeckte.
Denn es geziemte ihm, um dessentwillen alle [Dinge] und durch den alle [Dinge] sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Urheber ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen.
Jesus hat gelitten und sich selbst als Opfer dargebracht. Erst durch dieses Leiden und nach dem Leiden wurde Jesus verherrlicht. Herrlichkeit durch Leiden. Dies ist das Muster und Jesus ist uns darin zum Vorbild geworden. Sind wir größer als unser Meister?
Auch wir werden durch Leiden verherrlicht. Erst die Prüfung und danach die Herrlichkeit. Die Frage an uns lautet daher: »Wirst du auch in schwierigen Phasen deines Lebens treu sein?«
Zusammenfassung
In diesem letzten Gleichnis in Matthäus 25 sehen wir Jesus als König, der gerecht urteilt und die Nationen richtet. Dies ist ein Prozess, der nach der Himmelfahrt Jesu begonnen hat. Das Gericht an Israel im Jahr 70 n.Chr. war der erste Fall des Die-Nationen-Richtens, weil Israel die Nachfolger und Boten des Christus verfolgt und getötet hat. Sie wollten die Botschaft nicht hören. Sie wollten nicht gesegnet werden.
Seitdem geschieht dieses Richten kontinuierlich in der Geschichte bis zum Zweiten Kommen Christi. Immer wieder stehen Nationen am Scheideweg bei der Frage, wie sie die Boten Christi aufnehmen und behandeln und wie sie auf die Botschaft reagieren.
Das Letzte Gericht ist in diesem Richten der Nationen antizipiert. Das Richten der Nationen, von dem hier in Matthäus 25 die Rede ist, geschieht in der Zeit und ist ein zeitlich begrenztes Gericht. Diese Gerichte sind effektiv aber unvollkommen. Deshalb ist auch immer wieder Gericht notwendig. Aber mit dem Letzten Gericht wird dieses Richten endgültig und vollkommen zu Abschluss gebracht.