Vorbemerkung
Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag zum Thema Gleichnisse von Jeffrey J. Meyers im Rahmen der Biblical Horizons Conference 2014.[1] Die Zitate und Referenzen sind komplett diesem Vortrag entnommen. Da es sich allerdings um einen Vortrag ohne schriftliches Manuskript handelt und dieser zudem auf Englisch ist, konnte ich noch nicht alle Quellen für Zitate ausfindig machen und korrekt zitieren. Auch manche Aussagen sind mangels Referenzen nicht belegt.
Schriftgelehrte des Königreichs
In Matthäus 13,1-23 lesen wir das Gleichnis vom vierfachen Ackerboden und wie Jesus anschließend seinen Jüngern dieses Gleichnis erklärt.
Das finden wir an mehreren Stelln immer wieder. Jesus erzählt ein Gleichnis und erklärt dies anschließend seinen Jüngern. Jesus trainiert seine Jünger. Daher stellt Jesus ihnen am Ende von Kapitel 13 auch die Frage, ob sie alles verstanden haben und spricht dann von den »Schriftgelehrten im Reich des Himmels«.
Habt ihr dies alles verstanden? Sie sagen zu ihm: Ja.
Er aber sprach zu ihnen: Darum ist jeder Schriftgelehrte, der im Reich der Himmel unterrichtet ist, gleich einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorbringt.
Und genau das sind die Jünger geworden: herausragende Schriftgelehrte. Dies können wir vor allem an den Evangelien sehen, die aus der Feder der Apostel oder ihrer unmittelbaren Nachfolger geflossen sind. Diese sind alle kunstvoll arrangierte Meisterwerke der Literaturgeschichte. Gelehrte haben sich seit Jahrhunderten mit den Evangelien beschäftigt und die Ergebnisse ihrer Forschungen und Meditationen füllen ganze Bibliotheken.
Ein Beispiel für die Vielschichtigkeit der Evangelien finden wir zum Beispiel bei Markus in Kapitel 3. Dort lesen wir in den ersten sechs Versen von dem Mann mit der verdorrten Hand.
Und er ging wiederum in die Synagoge hinein; und dort war ein Mensch, der eine verdorrte Hand hatte. Und sie belauerten ihn, ob er ihn am Sabbat heilen würde, um ihn anklagen zu können.
Und er spricht zu dem Menschen, der die verdorrte Hand hatte: Steh auf [und] tritt in die Mitte.
Und er spricht zu ihnen: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu töten? Sie aber schwiegen.
Und er blickte auf sie umher mit Zorn, betrübt über die Verstocktheit ihres Herzens, und spricht zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! Und er streckte [sie] aus, und seine Hand wurde wiederhergestellt.
Und die Pharisäer gingen sogleich hinaus und hielten mit den Herodianern Rat gegen ihn, wie sie ihn umbrächten.
Auf der ersten Bedeutungsebene sehen wir Jesus, wie er die Frage stellt, ob man am Sabbat Gutes oder Böses tun soll. Er erhält von den Schriftgelehrten und Pharisäern keine Antwort. Daraufhin tut Jesus dem Mann mit der verdorrten Mann Gutes, indem er ihn von seinem Gebrechen heilt und ihn wieder herstellt. Als Reaktion darauf planen die Schriftgelehrten und Pharisäer am Sabbat(!) den Tod Jesu; dies ist eindeutig Böse. Mit ganz wenigen Worten und in sehr einfacher Weise stellt Markus die Schriftgelehrten und Pharisäer in ihrer Heuchelei bloß.
Aber wir finden hier eine noch viel tiefere Bedeutung in dem Text. Der Text stellt die Frage nach Gut und Böse. Dies sollte uns gleich an den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aus den ersten Kapiteln in Genesis erinnern. Auch bei Salomo finden wir das Thema wieder: er wünscht die Fähigkeit, Gut und Böse unterscheiden zu können, um dem Volk ein gerechter und weise König zu sein. Bei der (Er-)Kenntnis von »Gut und Böse« geht es also um die königliche Fähigkeit, gerechte und weise Entscheidungen treffen bzw. Urteile fällen zu können.
Jesus selber wird uns hier bei Markus als der zweite Baum aus Genesis präsentiert: Der Baum des Lebens. Der Mann mit der verdorrten Hand, dem gelähmten Arm, steht neben diesem Baum des Lebens und kann nicht nach dessen Frucht greifen, die ihm Heilung schenken würde.
Und Gott der HERR sagte: »Der Mensch ist jetzt ja geworden wie unsereiner, insofern er gut und böse zu unterscheiden weiß. Nun aber – dass er nur nicht seine Hand ausstreckt und auch Früchte vom Baume des Lebens nimmt und sie isst und unsterblich wird!«
Doch mit Jesus ist etwas neues in die Welt gekommen. Er erlaubt diesem Menschen von der Frucht des Baums des Lebens zu nehmen und sie zu essen. Er gibt diesem Mann von dieser Frucht. Er gibt ihm neues ein Leben.
Es ist faszinierend, was für eine kraftvolle Botschaft Markus in diesen sechs kurzen Versen verpackt. Das zeigt uns eindrucksvoll, was es heißt, ein »Schriftgelehrter im Reich des Himmels« zu sein. Und dies finden wir in den Schriften der Apostel immer und immer wieder.
Wie legt man Gleichnisse aus?
Gibt es die eine Methode oder Herangehensweise, das eine Prinzip oder die Leitlinie, mit deren Hilfe wir alle Gleichnisse entschlüsseln und interpretieren können? Gibt es sozusagen eine Universaltheorie zum Thema Gleichnisse? Ich bin der Meinung: Nein!
Aber leider versuchen heute viele Bücher genau dies. Sie präsentieren uns oft die eine Methode zum Verständnis der Gleichnisse Jesu. Wir modernen Menschen haben einen Hang zum Kategorisieren.
Viele Lehrbücher und Kommentare beschäftigen sich mehr mit einer »Gleichnislehre« als mit einer Auslegung der Gleichnisse selbst. Da bleibt man manchmal mit dem Gefühl zurück: »War das alles?«
Craig Bloomberg[2] kann uns hier als Beispiel dienen. Er endet mit drei Kategorien von Gleichnissen:
-
(komplexe) Drei-Punkte-Gleichnisse
-
Zwei-Punkte-Gleichnisse
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Ein-Punkt-Gleichnisse
Jedes Gleichnis steckt er in eine dieser drei »Schubladen«.
Stattdessen sollten wir lieber nach Gemeinsamkeiten, Mustern und Typologien in den Gleichnissen Ausschau halten. Wir sollten uns fragen, welche Assoziationen durch das Gleichnis geweckt werden, welche Bilder und Figuren verwendet werden. Und wir müssen nach dem Kontext des Gleichnisses fragen.
Sollten wir nicht Jesu Beispiel folgen, welches er uns zum Beispiel mit seiner Auslegung des Gleichnisses vom Sähmann in Matthäus 13 gibt. Er legt dieses Gleichnis – und andere – allegorisch aus. Seine Gleichnisse haben ganz offensichtlich eine allegorische Bedeutung. Und tatsächlich hat die christliche Kirche dies über fast zwei Jahrtausende hinweg getan. Die Allegorische Auslegung der Gleichnisse war bis ins 19. Jahrhundert hinein der Standard.
Was ist eine Allegorie?
Folgende Definition der Allegorie finden wir zum Beispiel auf wortwuchs.net:
Die Allegorie ist ein Stilmittel, das wir in Werken jeder Art und literarischen Gattung ausmachen können. Die Allegorie ist die Verbildlichung von Abstraktem oder Unwirklichem. Dabei wird das Allgemeine im Besonderen (Einzelnen) abgebildet. Das meint, dass ein komplexer Sachverhalt durch ein einziges Ding oder einen bildhaften Text dargestellt wird. Sehr häufig geschieht das durch den Einsatz der Personifikation und der Häufung von Metaphern (→ Beispielmetaphern).
Der Begriff Allegorie leitet sich aus dem Griechischen ab (ἀλληγορία - allegoria) und lässt sich in etwa mit andere oder auch verschleierte Sprache übersetzen. Die Übersetzung zeigt somit recht gut, worum es bei der Allegorie grundsätzlich geht: das sprachliche Verschleiern [eines abstrakten Begriffs, der durch den Empfänger (Leser, Zuschauer) entschlüsselt und gedeutet werden muss].
Demnach ist die Allegorie eine Abfolge von Metaphern, die sich über einen ganzen Text erstrecken, aber auch unterbrochen werden können, weiterhin kann die Stilfigur als Metapher verstanden werden, die über ein einzelnes Wort hinausgeht und demnach mehr ist, als eine einfache Bedeutungsverschiebung.
Oft tritt die Allegorie aber auch in Form einer Personifikation zutage. Das heißt, dass ein abstrakter Begriff (Gerechtigkeit, Tod, Liebe) in Form einer Person (Justitia, Sensenmann, Amor) dargestellt wird, die mit typischen Eigenschaften und Merkmalen des Begriffs versehen ist.
Allegorie
Typische Genres, in welchen die Allegorie oft zur Anwendung kommt, sind Fabeln, Sprichwörter, Parodien, Satiren (z.B. George Orwells Animal Farm) und die Gleichnisse der Bibel. Wir modernen Menschen sind allerdings sehr skeptisch gegenüber dem Mittel der Allegorie und moderne Christen insbesondere gegenüber der allegorischen Auslegung der Bibel.
Der Prügelknabe bezüglich der allegorischen Auslegung der Bibel ist Augustinus. Ein prominentes Beispiel ist seine Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter.[3]
C. H. Dodd kritisiert, dass ein Mensch mit gesundem Menschenverstand und einem gewissen Sinn für Literatur diese Auslegung für pervers halten muss.[4]
Augustinus geht in seiner Auslegung vermutlich zu weit, aber wir sollten doch auch fair bleiben und den Kontext beachten. Augustinus hat diese Auslegung im Rahmen einer sonntäglichen Predigt dargelegt, bei der er den Bibeltext für seine Hörer greifbar und praktisch machen wollte. Es handelt sich nicht um einen Kommentar oder eine akademische Schrift.
Wir sehen aber an diesem Beispiel, dass es illegitime Allegorisierungen gibt, ein Zuweitgehen. Dies ist der Fall, wenn man etwas ganz Fremdes – und zum Teil anachronistisches – in einen Text hineinlegt. Die Absicht des Autors und die Natur des Textes werden dabei komplett ignoriert. Die Gretchenfrage ist: Wie erkennt man so eine falsche Auslegung? Das ist in der Tat keine triviale Aufgabe und oft ist es sehr schwer, legitime und illegitime Allegorisierungen voneinander zu trennen.
Ein Beispiel für eine offensichtlich illegitime Allegorisierung finden wir bei dem griechischen bzw. hellenisierten Juden Philon von Alexandrien in seiner Abhandlung zum Buch Genesis[5]:
Doch könnte es nicht sein, dass an dieser Stelle die Dinge allegorisiert werden? Dann sind die vier Flüsse ein Zeichen der vier Tugenden:
für die Klugheit Pison, so genannt entsprechend der »Sparsamkeit«;
für die Mäßigung Gehon, denn sie müht sich gegen das Essen und Trinken und die verschiedenen Freuden und das, was im Bauch ist und was unterhalb des Bauches Wolllust erzeugt, und diese ist irdisch;
für den Mut Tigris, denn er beherrscht die uns wildmachende Emotion des Zorns;
für die Gerechtigkeit Euphrat, denn über nichts werden die Gedanken des Menschen fröhlicher als über Gerechtigkeit.
Fragen zur Genesis, I.12
Hier werden ganz fremde hellenistische, philosophische Ideen über die Tugenden in den Text des Buches Genesis hineingelegt. Diese Gedanken sind dem ursprünglichen Text und dessen Schreiber vollkommen fremd. Daher können wir hier mit großer Sicherheit von einer illegitimen Allegorisierung sprechen. Nur der in die hellenistische Philosphie Eingeweihte kann diese Bedeutung erkennen. Dies ist generell ein Zeichen illegitimer Allegorisierung: der Text ist nur noch Eingeweihten zugänglich, da spezielles Wissen oder Können für das Verständnis erforderlich ist. Die wörtliche Bedeutung des Textes wird dem menschlichen Bedürfnis angepasst und die historische Bedeutung spielt (fast) keine Rolle mehr. Man könnte den historischen Kontext genausogut weglassen, da dieser austauschbar und überflüssig geworden ist. Bei dem Beispiel oben ist es egal, ob es diese vier Flüsse tatsächlich gab oder nicht. Es zählt nur noch die Idee.
Jesus dagegen geht ganz anders vor. Er importiert keine fremde Ideen. Er verbindet seine Gleichnisse mit Hilfe von Bildern untereinander und mit bekannten Personen, mit der Geschichte, mit der Alten Welt, mit der Ist-Situation seiner Zeitgenossen.
Liberale Kritik an der allegorischen Auslegung
Ein Argument gegen die allegorische Auslegung von Gleichnissen, welches oft vorgebracht wird, ist, dass mit der Allegorisierung keine Kontrolle mehr hinsichtlich der Fantasie oder des Einfallsreichtums des Auslegers gegeben ist. Der Fantasie seien demnach bei der Auslegung keine Grenzen mehr gesetzt, da es ja klare Leitplanken fehlen.
Diesem Einwand lässt sich sehr einfach begegnen. Moderne Ausleger gehen hauptsächlich nach dem Prinzip vor, die Hauptaussage des Gleichnisses zu identifizieren (die Ein-Punkt-Methode). Die Details der Gleichnisse werden dabei als unwesentlich oder sogar unwichtig betrachtet und dementsprechend auf diese nicht weiter eingegangen. Aber führt dieses »strenge« Auslegungsprinzip dazu, dass wir in verschiedenen Auslegungn die mehr oder weniger identische Hauptaussage präsentiert bekommen? Ganz im Gegenteil. In der Regel wartet jeder Ausleger mit einer anderen Kernaussage des Gleichnisses auf. Die daraus abgeleitete Bedeutung und Anwendung des Gleichnisses variiert in der Regel dementsprechend. Wir sehen also sofort: auch die Ein-Punkt-Methode stoppt nicht die Vorstellungskraft des Auslegers. Jeder Ausleger kommt entsprechend seiner »Fantasie« zu anderen Ergebnissen.
Die liberale Theologie im 19. Jhdt hielt die Allegorie für eine unbeholfene und unkünstlerische Art des Schreibens. Liberale Theologen waren der Meinung, Jesus hätte so ein primitives Stilmittel nie verwendet und seine Jünger hätten ihm das untergeschoben. Die schriftlichen Zeugnisse der in Form der Evangeliuen waren sozusagen ein Downgrade gegenüber der wahren Lehre Jesu. Die wahre Lehre gilt es demnach wiederzuentdecken.
Einen Wendepunkt im Umgang mit den Gleichnissen bildete Adolf Jülicher[6]. Er trennte Gleichnis und Allegorie strikt auseinander. Die Allegorie war für ihn ein klar ausgeprägtes und unterscheidbares Genre und Jesu Gleichnisse passten nicht in dieses Genre. Die Gleichnisse Jesu haben gemäß seiner Sicht immer einen streng realistischen Inhalt; in dieser Haltung spiegelt sich der Realismus des 19. Jahrhunderts wider. Jülicher schreibt:
Das Bild im Gleichnis ist der jederman zugänglichen Wirklichkeit entnommen, weist hin auf Dinge, die jeden Tag geschehen, auf Verhältnisse, deren Dasein der schlechteste Wille anerkennen muss.
Quelle unbekannt
Jülicher vertritt die Ein-Gedanke-Methode. Das Gleichnis soll genau einen Gedanken verdeutlichen. Nur der eine Gedanke, auf den hin das Gleichnis angelegt ist, muss gefunden werden. Alle anderen Ansätze sind nicht akzeptabel, er bezeichnet sie sogar als pervers[7].
Joachim Jeremias[8] greift die Gedanken Jülichers auf und knüpft daran an. Bei ihm finden wir folgende Aussagen:
Es ist das Verdienst Adolf Jülichers, definitiv mit der allegorischen Auslegung gebrochen zu haben. Geradezu quälend liest es sich in Jülichers Darstellung der Geschichte der Auslegung der Gleichnisre- den Jesu}, welche Entstellung und Mißhandlung sich die Gleichnisse jahrhundertelang durch die allegorische Ausdeutung haben gefallen lassen müssen. Man kann auf diesem Hintergrund erst ermessen, wie befreiend es wirken mußte, als Jülicher nicht nur in hundert und aberhundert Fällen unwiderleglich nachwies, daß die Allegorisierung in die Irre führe, sondern grundsätzlich die These verfocht, daß sie den Gleichnissen Jesu von Hause aus völlig fern gelegen habe.
Die Gleichnisse Jesu, S.11-12
Dieser Art allegorischer Gleichnisauslegung hat Adolf Jülicher ein Ende gesetzt und erstmals eine methodisch kontrollierte Gleichnisdeutung geschaffen.
Quelle unbekannt
Wir fassen zusammen: Die Gleichnisse haben einen zweifachen historischen Ort. Der ursprüngliche historische Ort, wie aller Worte Jesu so auch der Gleichnisse, ist die Wirksamkeit Jesu in ihrer einmaligen konkreten Situation. Dann aber haben sie in der Urkirche »gelebt«. Wir kennen die Gleichnisse nur in der Form, die ihnen die Urkirche gegeben hat, und stehen daher vor der Aufgabe, ihre ursprüngliche Gestalt, soweit wir können, zurückzugewinnen.
Die Gleichnisse Jesu, S. 75
Jeremias sagt also: Allegorien sind den Gleichnissen Jesu vollkommen fremd. Die Allegorien stellen eine Entfremdung durch die frühe Kirche dar, die es zu entfernen gilt, um den eigentlichen Kern von Jesu Gleichnissen wieder zu enthüllen.
Robert Stein propagierte ebenfalls die Methodik des einen Gedankens. In den Gleichnissen sei der Hauptgedanke zu suchen; in den Details der Gleichnisse soll keine Bedeutung gesucht werden, sofern dies nicht unbedingt zwingend notwendig ist. Er hatte außerdem eine einseitige Voreingenommenheit gegen Wortspiele. Seine Haltung war von der Annahme geprägt, dass sich bildliche Rede immer ganz zweifelsfrei als solche präsentieren würde.
Aber was machten alle diese Theologen mit den allegorischen Auslegungen, die Jesus selbst uns zu seinen Gleichnissen gibt? Ihrer Ansicht nach sind diese Erklärungen der Gleichnisse nicht authentisch. Sie sind vielmehr ein Produkt der Evangeliums-Autoren, die die Verirrung der frühen Kirche in Allegorien auf diesem Wege kanalisiert haben. Oder die Evangelisten haben Jesus missverstanden und die Apostel lagen falsch. Die Hinzufügungen von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes müssen deshalb ignoriert werden. Wir müssen zu den primitiven, authentischen Worten Jesu zurückkehren. Paradoxerweise ist das gnostische Thomas-Evangelium für Joachim Jeremias der Prüfstein für die Gleichnisse bei Matthäus, Markus, Lukas und Johannes! Denn in diesem Buch gibt es keine allegorischen Auslegungen und bildet nach Jeremias' Meinung die authentischen Worte Jesu am besten ab[9].
Diese geschilderte Herangehensweise ist selber eine illegitime allegorische Auslegung der biblischen Texte, die fremde Gedanken in diese hinein legt und die Texte damit nur noch einem Kreis Eingeweihter zugänglich sind. Es wird ein »Eingeweihter« benötigt, der den echten, authentischen Kern aus den Texten herauszuschälen versteht.
Aber warum hat die Liberale Theologie die allegorische Auslegung so sehr gehasst? Die Antwort ist das mit der allegorischen Auslegung verbundene Weltbild. Denn die allegorische Auslegung ist nur möglich, wenn man die gesamte Weltordnung und -geschichte als von Gott orchestiert und geleitet betrachtet. Der Angriff auf die allegorische Auslegung ist also ein Angriff auf diese zentrale Wahrheit der biblischen Offenbarung.
Auch wenn die evangelikalen Bibelausleger inhaltlich weit von den liberalen Theologen entfernt sind und im Gegensatz zu diesen das gesamte Wort Gottes ernst nehmen und hochhalten, sieht man dennoch, wie das Wirken der oben genannten Theologen und ihr Polemisieren gegen die Allegorisierung auch die modernen evangelikalen Bibelausleger beeinflusst hat. Gerade der Ansatz, nur den einen Kerngedanken herauszuarbeiten, hat sich bis heute nachhaltig festgesetzt.
Zusammenfassung
Allegorische Auslegung ist unausweichlich. Es ist nur die Frage, in welcher Form sie angewendet wird. Auch die liberalen Theologen, die die Allegorisierung der Gleichnisse scharf kritisiert und verworfen haben, haben mit ihrem Ansatz, aus dem überlieferten Text die ursprüngliche, authentische Bedeutung herauszuarbeiten, den Bibeltext allegorisiert.
Bibliographie
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Jeffrey J. Meyers. The Parabels of Jesus, Part 2, Biblical Horizons Conference 2014. wordmp3.com (Vortrag)
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Craig Bloomberg. Interpreting the Parables. Inter Varsity Press, 2012
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Craig Bloomberg. Preaching The Parables: From Responsible Interpretation to Powerful Proclamation. Baker Publishing Group, 2009
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Adolf Jülicher. Das Wesen der Gleichnisse Jesu. 1910
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Joachim Jeremias. Die Gleichnisse Jesu – Kurzausgabe. Vandenhoeck und Ruprecht, 1984