Weisheit, Geschlecht und Stärke in den Sprüchen

Weisheit, Geschlecht und Stärke in den Sprüchen

Mark Horne, 13.11.2018

Warum ist das Buch der Sprüche nicht bekannter als das »Männerbuch« der Bibel?

Ich setze »Männerbuch« in Anführungszeichen, weil der Begriff in unserer heutigen Kultur fast schon altmodisch klingt – genauso wie »Männlichkeit«. Vielleicht schämt sich die Kirche auch ein wenig dafür, zuzugeben, dass die Bibel diesem Thema so viel Aufmerksamkeit schenkt.

Doch ein anderer Grund dafür findet sich in den Sprüchen selbst. Salomo scheint es nicht für nötig zu halten, Männer und Frauen gegeneinander abzugrenzen. Vielmehr geht es ihm darum, das Erwachsensein vom Kindsein zu unterscheiden. Er setzt offenbar voraus, dass Männer und Frauen verschieden sind. Wichtiger ist ihm zu erklären, dass ein Mann kein Junge mehr ist – und auch nicht mehr so handeln soll.

Das Buch der Sprüche richtet sich in erster Linie an junge Männer, um ihnen zu helfen, zu reifen und erwachsen zu werden. Es ist damit das Handbuch der Bibel für den Weg zum Mannsein. Selbst Sprüche 31, Verse 10 ff., wird oft als ein Abschnitt für Frauen betrachtet, richtet sich tatsächlich aber an Männer. Nur wenn man diesen Abschnitt künstlich von den Versen 1-9 trennt und behauptet, in Vers 10 beginne ein neues Thema, kann man argumentieren, der Text würde sich nicht primär an junge Männer richten. Aber jeder andere Abschnitt in den Sprüchen beginnt mit einer Autorenschaftsformel – etwa: »Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel« (Sprüche 1,1), »Sprüche Salomos« (Sprüche 10,1), »Neige dein Ohr und höre die Worte der Weisen« (Sprüche 22,17), »Auch diese sind von den Weisen« (Sprüche 24,23), »Auch diese sind Sprüche Salomos, die die Männer Hiskias, des Königs von Juda, zusammengetragen haben« (Sprüche 25,1), »Worte Agurs, des Sohnes Jakes« (Sprüche 30,1), und schließlich »Worte Lemuels, des Königs; Ausspruch, womit seine Mutter ihn unterwies« (Sprüche 31,1).

Die Beschreibung der gottesfürchtigen Ehefrau in Sprüche 31 kann zwar auch Frauen als Vorbild dienen, richtet sich aber eindeutig an junge Männer, damit sie lernen, worauf es bei einer Frau ankommt. König Lemuels Mutter ließ ihn diese Liste auswendig lernen, damit er sich daran erinnere: »Die Anmut ist Trug, und die Schönheit Eitelkeit; eine Frau, die den HERRN fürchtet, sie wird gepriesen werden.« (Sprüche 31,30).

In diesem Rahmen sind einige Aussagen der Sprüche über Geschlecht und Stärke besonders interessant.

Ein wesentliches Merkmal der gottesfürchtigen Frau ist, dass sie ihre Stärke pflegt und ausbildet. »Sie gürtet ihre Lenden mit Kraft und stärkt ihre Arme.« (Sprüche 31,17). Man könnte meinen, das sei bildlich gemeint – ähnlich wie in Sprüche 24,5-6: »Ein weiser Mann ist stark, und ein Mann von Erkenntnis befestigt seine Kraft. Denn mit weiser Überlegung wirst du glücklich Krieg führen, und bei der Ratgeber Menge ist Rettung.«

Aber es gibt keinen Grund, das Wort »Stärke« hier nur auf Weisheit zu beziehen. Die gottesfürchtige Frau in den Versen 10-31 wird ausdrücklich als Gegensatz zu einem anderen Frauentyp dargestellt: »Gib nicht den Frauen deine Kraft noch deine Wege den Verderberinnen der Könige.« (Sprüche 31,3). Auch das ist sicherlich bildlich gemeint – doch im Zusammenhang mit der Warnung vor Trunkenheit und unmoralischen Frauen gibt es keinen Grund zu glauben, dass Lemuels Mutter nicht auch an die körperlichen Folgen maßlosen Genusses denkt. Schließlich ging es in der Geschichte von Simson und Delila tatsächlich um den Verlust körperlicher Stärke.

Während also die gottesfürchtige Frau all ihre Kräfte bewahrt und ausbaut – wahrscheinlich auch ihre körperliche Kraft – wird dem jungen Mann in den Sprüchen nichts dergleichen geraten. Dem »Sohn« wird gesagt, dass Weisheit Stärke ist, aber er wird nicht aufgefordert, »seine Arme zu stärken«.

Gleichwohl erkennen die Sprüche an: »Der Schmuck der Jünglinge ist ihre Kraft« (Sprüche 20,29). Die Stärke junger Männer ist von Anfang an ein Thema im Buch der Sprüche. Die erste Versuchung eines jungen Mannes besteht darin, sich mit Gewalt zu versorgen. Eine gewalttätige Bande (zumindest vor der Erfindung von Schusswaffen) wollte gerade wegen ihrer Stärke junge Männer anwerben. Die Sprüche wurden offenbar von Menschen geschrieben, die sehr wohl wussten, dass junge Männer stark sind – die sie aber zu einem anderen Weg ermutigen wollten.

Tatsächlich stellt Salomo die Versuchung, sich durch Gewalt zu bereichern, dem Verhalten von Frauen gegenüber, die andere Wege suchen, um zu bekommen, was sie wollen:

Eine anmutige Frau erlangt Ehre,
und Gewalttätige erlangen Reichtum.
Sich selbst tut der Mildtätige gut,
der Unbarmherzige aber tut seinem Fleisch weh.
Der Gottlose schafft sich trügerischen Gewinn,
wer aber Gerechtigkeit sät, wahren Lohn.
Wie die Gerechtigkeit zum Leben,
so gereicht es dem, der Bösem nachjagt, zu seinem Tod.
Die verkehrten Herzens sind, sind dem HERRN ein Gräuel;
aber sein Wohlgefallen sind diejenigen, die in Lauterkeit wandeln.
Die Hand darauf: Der Böse wird nicht für schuldlos gehalten werden;
aber die Nachkommenschaft der Gerechten wird entkommen.
Ein goldener Ring in der Nase eines Schweines:
So ist eine schöne Frau ohne Anstand.

— Sprüche 11,16-22

Da diese Verse mit einem Hinweis auf Frauen beginnen und enden, scheint es sich um einen zusammenhängenden Abschnitt zu handeln. Wir sehen hier eine klare Gegenüberstellung: Männer neigen dazu, ihre Stärke einzusetzen, um zu nehmen, was sie wollen, während Frauen diesen Weg oft nicht gehen können und sich Ehre auf ethischere Weise erwerben. Doch der Reichtum, den Männer so gewinnen, ist »trügerischer Lohn«. Am Ende werden sie für ihre Gewalt bestraft. Ein Mann schadet sich letztlich selbst, wenn er seine Stärke auf diese Weise gebraucht.

Der Abschnitt endet schließlich mit der Feststellung, dass Frauen ebenso wie Männer in Torheit verfallen können.

Zusammengefasst: Die Sprüche erkennen die Stärke junger Männer an, sind aber viel mehr damit beschäftigt, vor den Versuchungen zu warnen, denen sie durch diese Stärke ausgesetzt werden können, als diese Stärke zu feiern. Schließlich vergeht die körperliche Kraft eines Tages. Dann muss man sich auf andere Werte verlassen können, die man im Laufe seines Lebens weise aufgebaut hat. »Der Schmuck der Jünglinge ist ihre Kraft, und graues Haar die Zierde der Alten« (Sprüche 20,29).

Salomo geht also zwar davon aus, dass Männer und Frauen unterschiedliche Rollen haben, warnt aber gleichzeitig vor einer Art gewalttätigem »Hypermaskulinismus«. Männer können durchaus von klugem Verhalten lernen, das Frauen entwickeln müssen, weil sie eben keine Stärke haben, die sie missbrauchen könnten.

Mark Horne ist Mitglied der Civitas-Gruppe und hat einen M.Div-Abschluss vom Covenant Theological Seminary. Er ist Assistenzpastor der Providence Reformed Presbyterian Church in St. Louis und Geschäftsführer von Logo Sapiens Communications. Er schreibt auf www.SolomonSays.net und Autor des Buches Solomon Says: Directives for Young Men (deutsch: Salomo spricht: Weisungen für junge Männer), erschienen bei Athanasius Press.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf der Seite des Theopolis Instituts. Die Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Theopolis Institute durch Tilmann Oestreich.