Das Buch der Sprüche erscheint als eine weitgehend willkürliche Sammlung von Aphorismen, die aus Erfahrungen stammen, die mit dem Gesetz übereinstimmen. Trotz seiner willkürlichen Anordnung hat das Buch jedoch eine übergreifende Struktur, die seine Hauptthemen unterstreicht.
Eine Möglichkeit, Hinweise auf die Struktur eines biblischen Buches (oder jedes anderen Buches) zu erhalten, besteht darin, den Anfang und das Ende zu betrachten. Das Buch Genesis beginnt mit dem Befehl an Adam, über die Erde zu herrschen, und endet mit einem neuen Adam, Joseph, der über das größte Reich der Welt herrscht. Exodus beginnt mit Israel in der Sklaverei und endet mit der Herabkunft Gottes auf die Stiftshütte; wie James Jordan geschrieben hat, ist das Thema des Buches »Von der Sklaverei zum Sabbat«. Die kosmische Tragweite der Chronik-Bücher wird dadurch unterstrichen, dass sie mit Adam (der Schöpfung) beginnt und mit Kyrus’ Ankündigung endet, dass der Tempel wieder aufgebaut werde, eine Vorwegnahme des eschatologischen Tempels der neuen Schöpfung. Das Buch Matthäus beginnt mit der jüdischen Genealogie Jesu, schildert seinen eskalierenden Konflikt mit der jüdischen Führung und seine Ablehnung derselben und endet mit dem Auftrag Jesu an seine Jünger, das Evangelium unter den Heidenvölkern zu verbreiten. Die Apostelgeschichte beginnt mit Pfingsten in Jerusalem und endet mit Paulus, der ungehindert in Rom predigt.
Wendet man dieses Verfahren auf die Sprüche an, so ergeben sich einige wichtige Erkenntnisse. Die ersten neun Kapitel sind voll von Hinweisen auf zwei Frauen, die um die Aufmerksamkeit und Zuneigung des Prinzen konkurrieren. Die Weisheit wird in Kapitel 1 vorgestellt, als sie auf der Straße die Einfaltspinsel ermahnt, ihre Torheit aufzugeben, und sie vor den Folgen warnt, wenn sie nicht auf sie hören (1,20-33). In Kapitel 2 wird die zweite Frau vorgestellt, die Ehebrecherin, die Dame Torheit (9,13); ihre Wege sind die Wege des Todes (2,16-18). Sie ist eine laute und ungestüme Frau, die die einfachen Leute ausnutzt (9,13).
In den ersten Kapiteln ermutigt der Vater seinen Sohn abwechselnd, der Dame Weisheit zu folgen (3,13ff.; 4,1-9; 8,1-36; 9,1-6), und warnt ihn vor den Gefahren, der Dame Torheit zu folgen (5,1-23; 6,20-35; 7,6-27; 9,13-18). Weisheit bringt Leben, Reichtum und Ehre. Torheit bringt Armut, Schande und schließlich den Tod; ihr Haus ist ein Weg ins Grab. Die Sprüche beginnen also damit, dass der Sohn vor die Wahl zwischen zwei Frauen gestellt wird, die mit zwei unterschiedlichen Schicksalen verbunden sind.
Es sollte auch berücksichtigt werden, dass die Sprüche von einem König an einen Prinzen geschrieben wurden. Das Buch besteht größtenteils aus den Sprüchen Salomos und König Lemuels (Kapitel 31), und der König wendet sich stets an seinen »Sohn«. Die dramatische Prämisse des Buches der Sprüche lautet wie folgt: Ein Prinz muss sich entscheiden, ob die Dame Weisheit Wisdom oder die Dame Torheit seine Prinzessin sein soll. Die dramatische Frage lautet also: Wen wird er wählen? (Beim Unterrichten von Kindern habe ich vorgeschlagen, dass das Buch der Sprüche strukturell mit Disneys Version von Hans Christian Andersens »Die kleine Meerjungfrau« vergleichbar ist, in der ein Prinz wählen muss zwischen der Meerjungfrau, die nicht sprechen kann, solange sie ein normales Mädchen ist, und der Meerhexe, die sich als begehrenswerte junge Frau verkleidet hat.)
Die Antwort auf unsere dramatische Frage findet sich im letzten Kapitel des Buches, dem bekannten Sprüche 31. Es ist kein Zufall, dass die Sprüche mit einem Loblied auf die gute Ehefrau enden. Im Drama der Sprüche ist die ausgezeichnete Frau die Frau Weisheit aus den früheren Kapiteln. Ihr Mann, der Fürst, sitzt nun in den Toren der Stadt. Der Prinz hat den Verführungen der Ehebrecherin, der Torheit, erfolgreich widerstanden. Er hat gut gewählt. Gemeinsam bilden der Prinz und seine Braut den königlichen Haushalt.
Diese Struktur und diese Personen entsprechen im Allgemeinen den wichtigsten Strukturen und Personen der Bibel. Der erste Fürst, Adam, beschloss, dem Wort seiner ehebrecherischen Frau zu folgen (2Kor 11,1-3), und landete, wie die Sprüche sagen, im Scheol. Der letzte Adam hörte aufmerksam auf das Wort seines Vaters und starb, um eine makellose Braut zu gewinnen. Jetzt lobt er seine Braut in den Toren; sie ist eine ausgezeichnete Frau.
Diese Zusammenfassung des Buches der Sprüche mag etwas skurril erscheinen, aber sie wirft ein Licht auf bestimmte Sprüche. Wenn wir zum Beispiel die Einheit des Buches der Sprüche erkennen, können wir die ursprüngliche Bedeutung der sogenannten »Rettungsverse« in Sprüche 24,11-12 besser verstehen. Diese Verse wurden benutzt, um die Aktivitäten der Anti-Abtreibungsgruppe »Operation Rescue« zu rechtfertigen. Diese Verse implizieren, so die Führer der Bewegung, dass Christen Frauen, die zu Abtreibungsinstituten gehen, um ihre Babys zu töten, physisch zurückhalten sollten.
Ich möchte hier nicht über die Verdienste von Operation Rescue diskutieren. Dieser Vers kann tatsächlich auf die Taktik der Abtreibungsgegner anwendbar sein. Es genügt zu sagen, dass dieser Vers in dem dramatischen Kontext der Sprüche eine andere, unmittelbare Kraft hat. Diejenigen, die »in den Tod geführt werden« und »zur Schlachtbank taumeln«, sind die Narren und Einfaltspinsel aus den ersten Kapiteln des Buches. In diesen Kapiteln wird der Einfaltspinsel als jemand dargestellt, der der Ehebrecherin glückselig ins Grab folgt (2,18-19; 6,33; 7,22-27; 9,18). In Sprüche 7,22 heißt es, dass der Narr der Dame Torheit folgt, wie »ein Ochse zur Schlachtbank geht«.
Im Kontext des ganzen Buches weisen uns Sprüche 24,11-12 also an, Narren und Einfaltspinsel vor der Torheit und Einfalt zu bewahren. Der Gedanke steht dem von Jakobus 5,20 nahe: »Wer einen Sünder von seinem Irrtum abbringt, rettet seine Seele vor dem Tod und deckt eine Menge Sünden zu.« Die in Sprüche 24,11-12 angesprochene Rettungsaktion ist in erster Linie die Rettung törichter Sünder von der Straße, die zum Grab führt.
Peter Leithart ist Präsident des Theopolis Instituts. Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf Biblical Horizons und wurde auf der Seite des Theopolis Instituts wieder veröffentlicht. Die Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Theopolis Institute durch Tilmann Oestreich.