Daniel 12

Daniel 12

Dominic Lottes, 09.11.2019

Einleitung: Vom vierten Tier zum Königreich des Menschensohns

Der letzte Abschnitt, gleichzeitig das letzte Kapitel im Buch Daniel, beschreibt das Kommen von Michael und damit den Übergang vom vierten Tier – Rom – zum Königreich des Menschensohns. Michael ist Jesus, der Messiahs. Daniel bekommt den Auftrag, die Worte geheim zu halten und das Buch zu versiegeln – bis das Ende kommt.

Daniel 12,1-3: Das Kommen Michaels

1 Und in jener Zeit wird Michael auftreten, der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Und es wird eine Zeit der Bedrängnis sein, wie sie [noch] nie gewesen ist, seitdem [irgend]eine Nation entstand bis zu jener Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk errettet werden, jeder, den man im Buch aufgeschrieben findet.

2 Und viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen: die einen zu ewigem Leben und die anderen zur Schande, zu ewigem Abscheu. 3 Und die Verständigen werden leuchten wie der Glanz der Himmelsfeste; und die, welche die vielen zur Gerechtigkeit gewiesen haben, [leuchten] wie die Sterne immer und ewig.

— Daniel 12,1-3

Zur Zeit des Todes des gottlosen König wird der Fürst Michael aufstehen. Wie wir bereits gesehen haben, ist Michael nicht nur ein Erzengel, sondern Jesus, der Messiahs. In dieser Zeit wird es zu einer Bedrängnis der Heiligen kommen, die so schlimm wie noch nie zuvor gewesen ist. Ebenso wie Daniel zu Beginn der Vision errettet wurde, wird Michael auch sein Volk erretten. Dies ist die Zeit, in der "das Reich und die Herrschaft und die Größe der Königreiche unter dem ganzen Himmel […​] dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben [werden]", als ein "ewiges Reich" (Dan 7,27f.).

Vers 2 wird in der Literatur unterschiedlich ausgelegt und kontrovers. Jordan stellt in seinem Kommentar sechs Auslegungsvarianten vor – nachfolgend eine Auswahl:

  1. Das Jüngste Gericht: Eine Interpretation ist, dass das Jüngste Gericht am Ende der Tage gemeint ist. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da erstens nur "viele" aufwachen, nicht alle, und zweitens, da dieses Ereignis gemäß Daniels Beschreibung bereits in der Zeit Michaels stattfindet.

  2. Auferstehung der Heiligen aus dem Sheol: Eine weitere Auslegung ist, dass dieser Vers eine Auferstehung aus dem Sheol (im NT Hades genannt) meint. Vor Jesus konnte niemand in den Himmel (vgl. Offb 4-5). Diejenigen, die vor Christus starben, kamen entweder in Abrahams Schoß (die Gerechten) oder an einen unschönen Ort (die Gottlosen) – beides Teile des Sheols. Als Jesus starb, fuhr er in den Sheol hinab und richtete die Toten. Zu Jesus Himmelfahrt nahm er die Gerechten mit zu sich in den Himmel, die Gottlosen blieben jedoch weiter im Sheol – bis zum Ende der Zeiten, wenn sie in den Feuersee vor Gottes Thron geworfen werden (Offb 14,9-11; 20,10-15). Gegen diese Auslegung spricht jedoch, dass in Offb 20,4-5 von einer ersten Auferstehung die Rede ist (die zweite und letzte ist das Letzte Gericht), allerdings nur für diejenigen "welche das Tier und sein Bild nicht angebetet und das Malzeichen nicht an ihre Stirn und an ihre Hand angenommen hatten" (Offb 20,4). Sollte Dan 12,2 diese erste Auferstehung sein, entsteht daraus ein Widerspruch.

  3. Auferstehung einer Nation: In Hes 37 lesen wir von der symbolischen Auferstehung der Nation Israel (V. 11), in einer ebenso bildlichen Sprache wie bei Daniel. Dan 12,2 spricht demnach von einer letzten Auferstehung Israels zur Zeit Jesus. Jesus erweckte die Nation, indem er Kranke heilte, Unreine reinigte, Tode auferweckte, das Gesetz wiederherstellte etc. Einige verstanden und taten Buße – für die anderen folgte auf die Auferstehung die endgültige Zerstörung, 70 n. Chr. durch die Römer. Die Zeit der Bedrängnis – die Große Trübsal – ereignete sich in der Zeit der Apostolischen Kirche. Dies wird an mehreren Stellen im Neuen Testament deutlich, insbesondere in Mt 23,35-36 und Mt 24,34, in der Jesus ankündigt, dass dieses Ereignis innerhalb seiner Generation stattfinden wird. Weiterhin sei auf die Ähnlichkeit zwischen Dan 12,1 und Mt 24,21 hingewiesen, die diesen Zusammenhang untermauert.

12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr, HERR: Siehe, ich öffne eure Gräber und lasse euch aus euren Gräbern heraufkommen als mein Volk und bringe euch ins Land Israel. 13 Und ihr werdet erkennen, daß ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch aus euren Gräbern heraufkommen lasse als mein Volk.

— Hes 37,12-13

Daniel 12,4: Die Erkenntnis wird sich mehren

Und du, Daniel, halte die Worte geheim und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes! Viele werden [suchend] umherstreifen, und die Erkenntnis wird sich mehren.

— Daniel 12,4

Bis "zur Zeit des Endes" wird Daniels Buch versiegelt. Damit ist das Ende des Oikumene-Zeitalters gemeint, dass von Jesus' Königreich abgelöst wird. In Offb 5-6 lesen wir, wie dieses verschlossene Buch geöffnet wird und Gottes Offenbarung weiter voranschreitet. Die Könige der Oikumene sind es, die "suchend umherstreifen". In Dan 11 werden die Bewegungen ihrer Armeen beschrieben. Durch die graduelle Erfüllung dieser Prophetie im Laufe der folgenden Jahrhunderte wird sich die "Erkenntnis mehren."

Daniel 12,5-13: Der Mann in Leinen

5 Und ich, Daniel, sah: und siehe, zwei andere standen da, einer hier am Ufer des Stromes, und einer dort am Ufer des Stromes. 6 Und einer sprach zu dem in Linnen gekleideten Mann, welcher oben über dem Wasser des Stromes war: Wie lange wird dauern das Ende dieser wunderbaren Dinge? 7 Und ich hörte den in Linnen gekleideten Mann, welcher oben über dem Wasser des Stromes war, und er erhob seine Rechte und seine Linke zum Himmel und schwur bei dem, der ewig lebt: Eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit; und wenn die Zerschmetterung der Kraft des heiligen Volkes vollbracht sein wird, dann werden alle diese Dinge vollendet sein.

8 Und ich hörte es, aber ich verstand es nicht; und ich sprach: Mein Herr, was wird der Ausgang von diesem sein? 9 Und er sprach: Gehe hin, Daniel; denn die Worte sollen verschlossen und versiegelt sein bis zur Zeit des Endes. 10 Viele werden sich reinigen und weiß machen und läutern, aber die Gottlosen werden gottlos handeln; und keine der Gottlosen werden es verstehen, die Verständigen aber werden es verstehen. 11 Und von der Zeit an, da das beständige Opfer abgeschafft wird, und zwar um den verwüstenden Gräuel aufzustellen, sind tausend zweihundertneunzig Tage. 12 Glückselig der, welcher harrt und tausend dreihundertfünfunddreißig Tage erreicht! 13 Du aber gehe hin bis zum Ende; und du wirst ruhen, und wirst auferstehen zu deinem Lose am Ende der Tage.

— Daniel 12,5-13

Der letzte Teil der Prophetie ist in zwei parallele Abschnitte unterteilt. Zuerst stellt der Engel dem Mann eine Frage und bekommt eine Antwort, danach befragt Daniel den Engel und erhält eine Antwort. Die Frage nach dem Ende wird zuerst damit beantwortet, dass dies die "Zerschlagung der Kraft des heiligen Volkes" (V. 7) sein wird, danach mit der Abschaffung des "regelmäßigen Opfers" (V. 11). Aufgrund der Parallelität des Abschnitts lässt sich daraus folgern, dass damit dasselbe Ereignis gemeint sein muss.

Das Wort, das für "Strom" in Vers 6 verwendet wird, ist ye’or, was übersetzt "Nil" bedeutet.[1] Dies verweist uns klar auf Ägypten und den Exodus. In Ex 17 lesen wir, dass Israel von den Amalekitern angegriffen wurden, nachdem Gott die Ägypter besiegt hatte. Wir haben gesehen, dass die Juden und Herodianer sich wie die Amalekiter verhalten.

Nachdem die Gemeinde aus "Ägypten" gerettet wurde (Apg 8,1; Offb 11,8; 12,14), wird sie nun von "Amalek" attackiert. Dies ist der Angriff der gottlosen Juden, beginnend mit Saulus' Verfolgung der jungen Gemeinde in Apg 8,1 und endend mit der Großen Trübsal ab dem Jahr 64 n. Chr., als nicht mehr nur die Juden die Christen verfolgten, sondern sich mit Nero das römische Reich (das vierte Tier aus Dan 7) gegen die Gemeinde wanden und versuchten, diese auszulöschen.

Der in Leinen gekleidete Mann teilt Daniel mit, dass diese Ereignisse nach "Zeit, Zeiten und eine[r] halben [Zeit]" enden (V. 7). Was ist damit gemeint? "Mo’ed" bedeutet "festgesetzte Zeit". Die erste Zeit finden wir in Dan 11,27-29 während der Bedrängnis durch Meneläus und Antiochus Epiphanes. Die nachfolgenden zwei Zeiten sind laut Jordan der vierte Kopf des dritten Tieres (das Hellenistische Rom) und das vierte Tier (das Imperialistische Rom), die halbe Zeit die folgende Große Trübsal nach dem Kommen Michaels.

Die festgesetzte Zeiten dauern 1335 Tage – 1290 bis zum "verwüstenden Gräuel" (V. 11) und weitere 45 Tage bis zum Ende (V. 12). 1290 Tage entsprechen dreimal 430 Tage und verweisen damit erneut auf den Exodus und die Hebräer in Ägypten, die dort 430 Jahre lang lebten. Auf Basis dieser Symbolik ergibt sich laut Jordan folgende Auslegungsmöglichkeit:

  • 1. Zeit: 430 Tage: Zeit von Antiochus IV. Epiphanes

  • 2. Zeit: 430 Tage: Zeit der Hasmonäer

  • 3. Zeit: 430 Tage: Zeit der Herodianer (Kleines Horn, Dan 7)

  • Halbe Zeit: 45 Tage: Große Trübsal

Die Verbindung zu Ägypten lässt darauf schließen, dass Jerusalem in dieser Zeit zu einem "geistigen Ägypten" wird (vgl. Jeremiah; in Offb 11,8 wird Jerusalem Sodom und Ägypten genannt). Dies passierte, als die Juden die wahre hohepriesterliche Linie verworfen (vgl. Dan 11).

Am Ende seiner Visionen in Dan 7 und 8 war Daniel jeweils krank und erschöpft. Nun wird ihm gesagt, dass er ruhen kann. Dies kann auch uns Trost schenken. Wir wissen, dass Gott am Ende siegreich sein wird, auch wenn wir gegenwärtig Leid erfahren. Bei Daniel können wir sehen, dass es Zeit braucht, bis wir wirklich verstehen und Frieden darüber finden, dass Gottes zukünftiger Sieg alles Leiden wettmachen wird. Gott gab Daniel diese Zeit und ebenso gibt er auch uns die Zeit, die wir brauchen. Wenn wir ihm treu bleiben und in der Erkenntnis seiner Gnade wachsen, werden auch wir diesen Frieden finden.


1. Üblicherweise wird nahar (H5104) verwendet, wenn kein bestimmter Fluss oder Strom gemeint ist.