Daniel 11

Daniel 11

Dominic Lottes, 09.11.2019

Einleitung: Vom zweiten zum dritten Tier

Um Daniel 11 zu verstehen, ist es wichtig, sich die Reihenfolge der Tiere in Kapitel 7 zu vergegenwärtigen. Dort sieht Daniel in einer Vision vier aufeinander folgende Tiere – einen Löwen mit Adlerflügeln, einen Bären mit drei Rippen im Maul, einen Leoparden mit vier Köpfen und ein Mischwesen, “furchtbar und schreckenerregend und außergewöhnlich stark” (Dan 7,7) mit großen eisernen Zähnen.

Diese vier Tiere haben wir an anderer Stelle als die vier Reiche Babylon, Persien, Griechenland und Rom identifiziert. Nachdem in Daniel 8 der Übergang vom persischen zum griechischen Weltreich prophezeit wurde, knüpft Daniel im elften Kapitel an diese Vision an. Dort wird Daniel durch den Engel Gabriel gezeigt, was bis zum Kommen des Messiahs geschehen muss. Der Fokus liegt dabei auf drei Herrschern, die wir im Folgenden den siegreichen, den zornigen und den gottlosen König bezeichnen werden und die ab Vers 5 in Erscheinung treten und allesamt in chiastischen Strukturen vorgestellt werden. Das Wissen über diese Konstruktionen erleichtert es uns, Zusammenhänge innerhalb dieser Abschnitte zu erkennen.

Bevor diese drei Könige auftreten können, muss jedoch das persische Königreich untergehen. Dies wird in den Versen 2 bis 4 dargestellt.

Der siegreiche König: Vom zweiten Tier zum zweiten Kopf des dritten Tiers

Daniel 11,2: Drei weitere persische Könige

2 Siehe, es werden noch drei Könige in Persien aufstehen, und der vierte wird größeren Reichtum erlangen als alle; und wenn er durch seinen Reichtum stark geworden ist, wird er alles gegen das Königreich Griechenland aufregen.

— Daniel 11,2

Bevor der siegreiche König, Antiochus III., wie wir später erfahren werden, die Bühne betritt, erfahren wir zunächst, dass es insgesamt fünf persische Könige geben wird – drei davon nach Kyros und einen, der Krieg gegen Griechenland führen wird. Nachdem diese Prophetie während Kyros’ Herrschaft empfangen wurde, sind die ihm nachfolgenden vier Könige Kambyses, Smerdis, Darius I. und Xerxes I.

Demnach müsste nach Xerxes I. direkt Alexander der Große folgen. Tatsächlich war dies jedoch nicht der Fall, sondern einige weitere persische Könige herrschten nach Xerxes I. Weshalb werden diese nicht erwähnt? Dazu muss man bedenken, dass sich Prophetien in der Regel mit einzelnen Aspekten der Geschichte beschäftigen, nicht mit umfassenden historischen Details im Sinne eines Geschichtsbuchs. So auch in unserem Fall: Die Reihe von Niederlagen, die Xerxes I. gegen die Griechen erlitt, waren der Beginn vom Niedergang Persiens und dem Aufstreben Griechenlands und aus dieser Perspektive war Xerxes I. tatsächlich derjenige Herrscher, der sein Reich an Griechenland verliert. Alle weiteren historischen Ereignisse sind aus Gabriels Perspektive offenbar irrelevant.

Daniel 11,3-4: Aufstieg und Fall eines tapferen Königs

3 [Infolgedessen wird] ein tapferer König […​] aufstehen, und er wird mit großer Macht herrschen und nach seinem Gutdünken handeln.

4 Und sobald er aufgestanden ist, wird sein Reich zertrümmert und nach den vier Winden des Himmels hin zerteilt werden. Aber nicht für seine Nachkommen wird es sein und nicht nach der Macht, mit welcher er geherrscht hat; denn sein Reich wird zerstört und anderen zuteil werden, mit Ausschluß von jenen.

— Daniel 11,3-4

In diesem Abschnitt begegnet uns zum ersten mal eine Eigenheit der hebräischen Grammatik, der Verbindung von „und“ mit einem Verb im Perfekt (sog. "`vollendete Gegenwart"). Diese Konstruktion bringt zum Ausdruck, dass eine Aussage auf der vorhergehenden aufbaut und diese erweitert. Im Deutschen werden diese Verknüpfungen anders ausgedrückt, sodass die Übersetzung den Eindruck erweckt, es handele sich um neue oder eigenständige Gedanken. Tatsächlich handelt es sich jedoch oft um zusammenhängende, aufeinander aufbauende Aussagen.

Der „tapfere König“ in Verse 3 ist Alexander der Große. Alexander verfügte zwar über große Macht, war aber laut Josephus (Altertümer, 11:8:5) kein gottesfürchtiger Herrscher. Er starb tatsächlich kurz nach dem Beginn seines Feldzugs, wie Vers 4 vorhersagt.

Wie wir bereits insbesondere in Daniel 8 gesehen haben, zerfiel Alexanders Reich nach dessen Tod in mehrere Teile. „Nach den vier Winden des Himmels“ (Dan 11,4) meint laut Jordan keinen Kompass, sondern Gottes Volk, die Juden, die im Zentrum dieser Reiche stehen. In der Literatur werden die vier Winde jedoch als Nachfolgereiche Alexanders interpretiert. Zwei dieser Dynastien stehen nun im Fokus. Diese waren in Syrien die Seleukiden (Norden) und in Ägypten die Ptolemäer (Süden).

Der nun folgende Teil der Prophetie (d. h. Dan 11,5-45) besteht aus drei Chiasmen mit jeweils sieben Abschnitten: Der erste (Vv. 5-20) handelt von einem siegreichen, der zweite (Vv. 21-35) von einem zornigen, (während dessen Regierung die Juden in Sünde fallen und gerichtet werden) und der dritte (Vv. 36-12,1) von einem gottlosen König, während dessen Regierung der Fürst Michael erscheint.

Der siegreiche König wird wie folgt beschrieben:

  • A Der König des Südens wird mächtig; einer seiner Obersten (Norden) wird noch mächtiger (V. 5)

    • B Eine erfolglose Heirat: Süden sendet Tochter nach Norden (V. 6)

      • C Der Süden ist siegreich über den Norden (Vv. 7-9)

        • D Sieg des Nordens, dann des Südens, dann des Nordens: Ein Machtwechsel beginnt (Vv. 10-13)

      • C' Der Norden ist siegreich über den Süden (Vv. 14-16)

    • B' Eine erfolglose Heirat: Norden sendet Tochter nach Süden (V. 17)

  • A' Der Süden ist geschlagen, aber auch der Norden erleidet Rückschläge (Vv. 18-20)

Daniel 11,5: Der Süden wird mächtig, der Norden noch mächtiger

5 Und der König des Südens, und zwar einer von seinen Obersten, wird stark werden. Und einer wird stark werden über ihn hinaus und wird herrschen: seine Herrschaft wird eine große Herrschaft sein.

— Daniel 11,5

In diesem Vers kommt dem Thema „Herrschen“ eine zentrale Bedeutung zu. Allein in diesem Vers finden wir es dreimal (mashal: herrschen, Macht haben, regieren). Dies ist nicht verwunderlich, denn in Dan 7,6 wird vorhergesagt, dass dieses Attribut für das dritte Tier – den Leopard – eine zentrale Eigenschaft darstellt:

Nach diesem schaute ich, und siehe, ein anderes, wie ein Leopard: das hatte vier Vogelflügel auf seinem Rücken. Und das Tier hatte vier Köpfe, und Herrschaft wurde ihm gegeben.

— Daniel 7,6

Die Frage, die sich in Vers 5 stellt, ist die nach der Identität "`seines Obersten". Einen Hinweis gibt uns die Struktur dieses Abschnitts. Wir lesen ab Vers 14 – der chiastischen Parallelstelle zu Vers 5 --, dass der Norden den Süden besiegen wird, woraus sich folgern lässt, dass es eine Verbindung zwischen dem Obersten und dem König des Nordens geben muss, d. h., dass der König des Nordens möglicherweise aus dem Süden stammt.

Tatsächlich reagierte nach Alexanders Tod der Grieche Ptolemäus I Soter (322–285 v. Chr.) Ägypten mti großer Macht. Ptolemäus setzte seinen Feldherr Seleukos als Statthalter (auch mit Satrap übersetzt) über Babylon ein, der jedoch gezwungen war, nach Ägypten zu fliehen, als der Antigonos I. Monophtalmus („der Einäugige“) die Herrschaft in Babylon übernahm. Ptolemäus machte Seleukos, inzwischen zurück in Ägypten, zu seinem Flottenadmiral und ließ ihn weitere Kriege führen. Dabei gelang es Seleukos, Babylon und ganz Mesopotamien unter seine Kontrolle zu bringen, wodurch er zu Seleukos I. Nicator („der Eroberer“) gekrönt und damit zum König des Nordens wurde (312-280 v. Chr). Seleukos wurde sehr mächtig – mächtiger als das griechische Ägypten unter Ptolemäus und mächtigstes Folgereich von Alexanders Imperium. Doch Syrien kontrollierte nicht Palestina, sondern Ägypten, was zu einem Streitpunkt werden sollte, wie wir später sehen werden.

Sowohl die Seleukiden als auch die Ptolemäer verfolgten nicht den Ansatz – entgegen Alexanders ursprünglichen Plänen – die eroberten Länder in die griechische Kultur zu integrieren und sie zu hellenisieren. Stattdessen wurden weiterhin die lokalen Götter angebetet und den Menschen in den besetzten Ländern erlaubt, an ihrem bisherigen Glauben festzuhalten. So konnten die Juden weiterhin in ihren Traditionen leben und Gott im Tempel anbeten. Dies änderte sich zunächst auch nicht, als die Seleukiden Judäa eroberten und das Land in die Provinz Syrien eingliederten – solange, bis Antiochus IV. Epiphanes an die Macht kam.

Daniel 11,6: Erfolglose Heirat Süden nach Norden

6 Und nach Verlauf von Jahren werden sie sich verbünden; und die Tochter des Königs des Südens wird zu dem König des Nordens kommen, um einen Ausgleich zu bewirken. Aber sie wird die Kraft des Armes nicht behalten, und er wird nicht bestehen noch sein Arm; und sie wird dahingegeben werden, sie und die sie eingeführt haben, und der sie gezeugt, und der sie in jenen Zeiten unterstützt hat.

— Daniel 11,6

Vers 6 zeigt uns den ersten Übergang innerhalb des Leopards (d. h. von dessen erstem zum zweiten Kopf). Der Süden, geschwächt durch Seleukos neu gewonnene Macht, versucht mittels Heirat eine Allianz mit dem Norden einzugehen, was jedoch scheitert. In der Retrospektive ist es uns möglich, diesen Übergang einzuordnen. Der erste Kopf symbolisiert ein weitestgehend geeintes Nachfolgereich Alexanders (d. h. es existiert keine dominierende Macht). Dieses Machtgleichgewicht kommt nun mit den Seleukiden zum erliegen, die als Griechisches Syrien nun das Heilige Land regierten.

Nach Seleukos' Tod folgte ihm Antiochus I. Soter (280–261 v. Chr.) in Syrien auf den Thron, der wiederum von seinem Sohn Antiochus II Theos (261–246 v. Chr.) beerbt wurde. Währenddessen übernahm Ptolemäus II. Philadelphus (283–247 v. Chr.) das Zepter seines Vaters in Ägypten. Etwa 250 v. Chr. sandte Ptolemäus II. Philadelphus seine Tochter Berenike nach Syrien, um Antiochus II. Theos zu heiraten. Antiochus verstieß dazu seine erste Frau, Laodike, mit der er vier gemeinsame Kinder hatte. Nachdem Ptolemäus II. zwei Jahre später gestorben war, kehrte Antiochus zu Laodike zurück, die wiederum die Ermordung von Antiochus (der Gattenmord ist historisch umstritten), Berenike und Berenikes Sohn veranlasste. Dies passierte im Jahr 246 v. Chr.

All diese Ereignisse finden wir im chiastisch angeordneten Vers 6, mit „uns sie wird dahingegeben werden“ im Zentrum, womit die Scheidung und Ermordung Berenikes gemeint ist. Dies stellte nicht nur eine Scheidung von zwei Eheleuten dar, sondern auch von zwei Nationen, Norden und Süden (auf eine exakte Gegenüberstellung sei an dieser Stelle verzichtet).

Daniel 11,7-9: Siege des Süden über den Norden

7 A [Infolgedessen wird] einer von den Schößlingen ihrer Wurzeln […​] an seiner Statt aufstehen ; B und er wird gegen die Heeresmacht kommen, C und wird in die Festungen des Königs des Nordens eindringen und mit ihnen nach Gutdünken verfahren, und wird siegen. 8 D Und auch wird er ihre Götter samt ihren gegossenen Bildern, samt ihren kostbaren Geräten, Silber und Gold, nach Ägypten in die Gefangenschaft führen; C' und er wird Jahre lang standhalten vor dem König des Nordens. 9 B' [Infolgedessen wird] dieser […​] in das Reich des Königs des Südens kommen, A [und] in sein Land zurückkehren.

— Daniel 11,7-9

Der nun folgende Abschnitte ist chiastisch angeordnet, wie in obigem Bibeltext markiert. Aus Berenikes Familie entspringt ein neuer Herrscher, der mit einer großen Armee gegen den König des Nordens kämpft und in seine Festungen eindringt. Offenbar gelingt es dem König des Nordens nicht, Ägypten vollständig zu erobern, da er nach Syrien zurückkehrt. In der Mitte des Verses (D.) wird das Königreich des Südens explizit mit Ägypten verknüpft. Die kostbaren Geräte aus Silber und Gold erinnern uns an die Juden im Exil in Babylon (vgl. Daniel 1), die Gefangenschaft in Ägypten an die Hebräer und Mose (vgl. Exodus).

Dieser Abschnitt erfüllte sich wie folgt: Ptolemäus III. Euergetes („Täter guter Taten“), ein Bruder von Berenike (und damit ein „Sproß ihrer Wurzeln“, V. 7), rächte ihren Tod, in dem er eine Armee aufbaute und Syrien angriff und besiegte. Ptolemäus III. zog von dort aus weiter über den Euphrat bis mindestens Babylon, musste jedoch wegen eines Aufstands in Ägypten umkehren. Dadurch gewann der neue König des Nordens, Seleukos II. Callinicus, seine alte Stärke zurück. Um sich zu rächen, zog dieser im Jahr 242 v. Chr. nach Ägypten, erlitt dort jedoch schwere Niederlagen, sodass er sich zurückziehen musste. Dadurch kam Syrien in die Position, Ägypten durch Antiochus III. Magnus („der Große“) den Todesstoß zu versetzen – es kommt zu einem Machtwechsel.

Daniel 11,10-13: Machtwechsel von Süden nach Norden

10 Aber seine Söhne werden sich zum Kriege rüsten und eine Menge großer Heere zusammenbringen; und einer wird kommen und überschwemmen und überfluten; und er wird wiederkommen, und sie werden Krieg führen bis zu seiner Festung.

11 Und der König des Südens wird sich erbittern, und wird ausziehen und mit ihm, dem König des Nordens, streiten; und dieser wird eine große Menge aufstellen, aber die Menge wird in seine Hand gegeben werden. 12a Und wie die Menge weggenommen wird, wird sein Herz sich erheben; und er wird Zehntausende niederwerfen,

12b aber nicht zu Macht kommen. 13 [Infolgedessen wird] der König des Nordens […​] wiederkommen und eine Menge aufstellen, größer als die frühere; und nach Verlauf der Zeiten von Jahren wird er mit einem großen Heere und mit großer Ausrüstung kommen.

— Daniel 11,10-13

In diesem Abschnitt sehen wir einen großen Krieg kommen – der Norden attackiert den Süden, zuerst erfolglos, dann von Erfolg gekrönt. Aus den Söhnen des König des Nordens (V. 10) wird ein neuer König des Nordens hervorgehen (V. 13; chiastische Anordnung). Aus den folgenden Versen ergibt sich, dass dieser König des Nordens außergewöhnlich erfolgreich sein wird, weshalb wir ihn als den "`siegreichen König“ bezeichnen.

Diese Verse beschreiben eine Reihe von Ereignissen, die jeweils aufeinander aufbauen:

  • Erstens wird Seleukos Sohn Seleukos III. Keroneos (226–223 v. Chr.) König. Nach dessen frühem Tod durch einen Sturz von einem Pferd im Jahr 223 v. Chr. beerbt ihn sein jüngerer Bruder Antiochus III. Magnus (im Folgenden: Antiochus der Große; 222–187 v. Chr.). Die Brüder bauten eine Armee auf, mit der Antiochus nach Süden zog und große Teile von Palästina zurückeroberte. Ein Waffenstillstand mit dem neuen ägyptischen König, Ptolemäus IV. Philopater (221–203 v. Chr.), beendete die Kämpfe.

  • Zweitens nutzte Antiochus den Frieden, um einen neuen, größeren Angriff auf Ägypten vorzubereiten.

  • Drittens blieb auch Ptolemäus IV. in dieser Zeit nicht untätig, sondern baute ein eigenes Heer auf und zog gegen Antiochus in den Kampf. Die beiden Armeen trafen im Jahr 217 v. Chr. in Raphia, einer ägyptischen Festung in Palästina, aufeinander. Dort kam es zur großen Schlacht, die das ägyptische Heer für sich entscheiden konnte.

  • Anstatt gegen Syrien zu ziehen und den finalen Sieg zu forcieren, schloss Ptolemäus, viertens, einen Friedensvertrag mit Antiochus. Sein Sieg schaffte ihm Befriedigung, was für ihn ausreichend war, sodass er „nicht mächtig [blieb]“, wie wir in V. 12 lesen.

Im dritten Buch der Makkabäer (3 Makk) erfahren wir, dass Ptolemäus auf dem Weg zurück nach Ägypten in Jerusalem halt machte, das Allerheiligste betrat (und plünderte) und die Juden schlecht behandelte. Nachdem diese Ereignisse ausschließlich in dieser Quelle beschrieben werden, wird deren Historizität unter Forschern bezweifelt. Unstrittig ist jedoch, dass die Juden sich von den Ägyptern ab- und den Syrern zuwandten. Auch würde dies erklären, weshalb die Juden diese Phase ihrer Geschichte als neue Gefangenschaft in Ägypten und ihre spätere Befreiung durch Antiochus als neuen Exodus bezeichneten.

Aufgrund der Schwäche des ägyptischen Königs, konnte sich Antiochus der Große ungehindert Richtung Osten und der Türkei ausbreiten und ein neues Herr aufbauen. „Nach Ablauf der Zeiten“ (V. 13) deutet an, dass nun ein neuer Machtwechsel bevorsteht: Der zweite Kopf von Alexanders Reich, das griechische Ägypten, wird durch das griechische Syrien ersetzt, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.

Daniel 11, 14-16: Siege des Norden über den Süden

14 Und in jenen Zeiten werden viele aufstehen gegen den König des Südens; und Gewalttätige deines Volkes werden sich erheben, um das Gesicht zu erfüllen, und werden zu Fall kommen. 15 Und der König des Nordens wird kommen und einen Wall aufwerfen und eine befestigte Stadt einnehmen; und die Streitkräfte des Südens werden nicht standhalten, selbst sein auserlesenes Volk wird keine Kraft haben, um standzuhalten. 16 Und der, welcher gegen ihn gekommen ist, wird nach seinem Gutdünken handeln, und niemand wird vor ihm bestehen; und er wird seinen Stand nehmen im Lande der Zierde, und Vertilgung („Zerstörung“) wird in seiner Hand sein.

— Daniel 11, 14-16

In diesem Abschnitt erfahren wir, dass „viele gegen den König des Südens aufstehen“ werden (V. 14). Der Norden kann damit nicht gemeint sein, da dieser dem Süden bereits feindlich gegenüber steht. Wahrscheinlicher ist, dass damit Juden gemeint sind, die sich vom König des Südens abwenden und sich dem König des Nordens anschließen. „Gewalttätige deines Volkes“ lautet im Originaltext „Söhne der Räuber“. Jer 7,11 hilft uns, diese Referenz zu verstehen:

„Ist denn dieses Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, eine Räuberhöhle geworden in euren Augen? Doch ich, siehe, ich habe [das alles] gesehen, spricht der HERR.“

— Jer 7,11

Mit dieser Bezeichnung sind in Jeremia Priester gemeint, die den Tempel in eine „Räuberhöhle“ verwandeln (vgl. Hes 7,22). Nachdem diese Personengruppe – wer auch immer damit gemeint ist – „zu Fall kommen“ wird (V. 14), muss sie mit Ägypten verbündet sein. Die Verse 15 und 16 beschreiben den Sieg des König des Nordens über Ägypten. Auch das „Land der Zierde“, das Heilige Land, wird an den Syrien fallen.

Was passierte?

  • Vers 14: Eine Rebellion seitens der Ägypter gegen ihre griechische Besatzungsmacht kostete Ptolemäus IV das Leben. Auf den Thron folgte ihm sein vierjähriger Sohn Ptolemäus V. Epiphanes (203–181 v. Chr), das Regierungsgeschäft übernahm zunächst Agathocles, einer der obersten Minister des Landes. Diese Unruhe verschlimmerten die Situation in Israel, die bereits angespannt war. Grund hierfür war, dass der Hohepriester Onias II., als er 234 v. Chr. ins Amt kam, entschied, keine Tribute an Ptolemäus III. Euergetes zu bezahlen (Onias hatte einen Machtwechsel erwartet, der jedoch ausblieb). Ptolemäus entzog ihm daher die Prostasia (politische Vertretung der Provinz am königlichen Hof) und übertrug diese Onias’ Neffen Joseph, der dafür sorgte, dass alle Zahlungen geleistet wurden. Joseph wurde in der Folge zu einem wichtigen Steuereintreiber im ptolemäischen Reich. Er und sein Sohn Hyrcanus versorgten auch die pro-ägyptischen Tobiaden (eine bedeutende, hellenistisch orientierte Familie der Oberschicht) in Jerusalem mit Geld, die wiederum Unruhe bei den pro-syrischen Hohepriestern Onias II., Simon II. und Onias III. stifteten. Letztlich entstanden zwei Fraktionen: Die pro-ägyptischen Tobiaden und der pro-syrische (Antiochus der Große) Rest der Bevölkerung. Die Tobiaden waren die „Räuber“ aus V. 14 – nicht nur, dass sie den Leuten als Steuereintreiber Geld abnahmen, sondern auch, weil sie mit Ptolemäus IV. verbündet waren, der den Tempel plünderte. Sie „kamen zu Fall“, dahingehend, dass später Antiochus IV. Epiphanes in Ägypten einmarschierte (woraufhin Hyranus Selbstmord beging) und nicht zuletzt als Teil der pro-hellenistischen Sadduzäer, die dem späteren Gericht Jerusalems 70 n. Chr. zum Opfer fallen würden.

  • Vers 15: Im Jahr 199 v. Chr. belagerte Antiochus der Große mit Unterstützung von Philip V. von Makedonien die ägyptische Stadt Pan (später Caesarea Philippi; heutige Golan Höhen, an der Grenze zu Syrien) und später Sidon (im heutigen Libanon). Die Ägypter erlitten eine schwere Niederlage.

  • Vers 16: Antiochus konnte nach Belieben handeln, da Ägypten keinerlei Widerstand mehr leisten konnte. Aus Furcht vor dem zu dieser Zeit bereits erstarktem Römischen Reich, verzichtete er jedoch auf die Eroberung des eigentlichen Landes Ägypten und blieb stattdessen in Palästina. Antiochus war zeigte sich den Juden für ihre Unterstützung sehr dankbar. Er sandte Geld für den Wiederaufbau des Tempels (der durch Ptolemäus IV. geplündert worden war), Tiere für das tägliche Opfer, Getreide und Öl für die Bevölkerung etc. Außerdem erließ er ihnen für drei Jahre die Steuern, senkte diese dann um ein Drittel und ermöglichte ihnen eine freie Ausübung ihrer Religion. Dies ging deutlich weiter als bei Hellenistischen Herrschern üblich und zeigte Antiochus Dankbarkeit.

Daniel 11,17: Erfolglose Heirat von Norden nach Süden

17 Und er wird sein Angesicht darauf richten, mit der Macht seines ganzen Reiches zu kommen, indem er einen Ausgleich im Sinne hat, und er wird ihn bewirken; und er wird ihm eine Tochter der Weiber geben, zu ihrem Verderben; und sie wird nicht bestehen und wird nichts für ihn sein.

— Daniel 11,17

Wie V. 6 handelt auch V. 17 von einer erfolglosen Heirat. Dieses mal sendet der König des Nordens eine Braut in den Süden, nicht umgekehrt – mit dem Ziel, „in den Besitz seines ganzen Reiches zu kommen“. V. 17 ist das erste von drei „sein Angesicht darauf richten“, etwas zu erobern. Im Neuen Testament wird dieses Bild wieder aufgegriffen: „Es geschah aber, als sich die Tage seiner Aufnahme erfüllten, da richtete er sein Angesicht fest darauf, nach Jerusalem zu gehen`" (Lk 9,51). „Nach Jerusalem zu gehen“ bedeutet letztlich, Jerusalem zu erobern. Genau dies tat Jesus, indem er erst für sein Volk starb und ihr König wurde, und danach seine Feinde 70 n. Chr. zerstörte.

Antiochus schloss mit Ägypten im Jahr 197 v. Chr. Frieden und vermählte seine Tochter Kleopatra I. (deren Mutter Laodike war; nicht zu verwechseln mit der berühmten Kleopatra VII., die deutlich später lebte) mit Ptolemäus V. (203–181 v. Chr.). Die Heirat fand in Raphia statt, am selben Ort, an dem Antiochus eine schwere Niederlage gegen Ägypten erlitt. Damit demonstrierte Antiochus die nun veränderten Machtverhältnisse – wir erinnern uns, Antiochus konnte wegen Rom keinen offenen Krieg gegen Ägypten beginnen. Kleopatra und Ptolemäus waren zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit zehn bzw. 16 Jahre alt.

Später sollte Kleopatra sich jedoch loyal gegenüber Ägypten erweisen und zu einem Bündnis Ägyptens mit Rom beitragen.

Daniel 11,18-20: Der Süden wird geschlagen, der Norden erleidet Rückschläge

18 Und er wird sein Angesicht nach den Inseln („Küstengebieten“) hinwenden und viele einnehmen; aber („Infolgedessen“; und + pf) ein Feldherr wird seinem Hohne ein Ende machen, dazu noch seinen Hohn ihm zurückgeben. 19 Und er wird sein Angesicht nach den Festungen seines Landes hinwenden, und wird straucheln und fallen und nicht mehr gefunden werden. 20 Und an seiner Statt wird einer aufstehen, welcher einen Eintreiber der Abgaben durch die Herrlichkeit des Reiches ziehen läßt; aber in wenigen Tagen wird er zerschmettert werden, und zwar weder durch Zorn noch durch Krieg.

— Daniel 11,18-20

Nach den großen Triumphen scheint sich nun das Blatt für den Siegreichen König zu wenden. Sein Versuch, Ägypten zu unterwerfen, scheitert. Auch der Versuch, sich im Mittelmeerraum (wörtlich: Küstengebiete) zu etablieren, ist nicht von Erfolg gekrönt. Stattdessen muss er sich zurückziehen, um kurz darauf zu fallen. Auch sein Nachfolger wird nach „wenigen Tagen […​] zerschmettert“ (V. 20).

Dieser Abschnitt zeigt uns das Ende der Herrschaft von Antiochus III. Nachdem er Ägypten nicht einnehmen konnte, wandte er sich gegen Thrakien und Makedonien und die Küstengebiete Griechenlands. Er versuchte, sich mit Hannibal von Karthago zu verbünden, um die Vorherrschaft Roms zu beenden und dadurch Ägypten erobern zu können. Mit seinem Angriff auf die Küstengebiete Griechenlands provozierte er Rom, die ihren Konsul Lucius Scipio Asiaticus schicken, der Antiochus bei Magnesia Ende 190 v. Chr. besiegte. Dabei standen sich jeweils 50.000 Soldaten gegenüber. Antiochus wurde dadurch zum Vasall Roms und musste immense Reparationszahlungen leisten. Sein Sohn Antiochus IV. wurde als Kriegsgefangener nach Rom verschleppt und dort römisch erzogen.

Um die Reparationszahlungen aufzubringen, war Antiochus gezwungen, weiterhin Krieg zu führen. Er kehrte zurück nach Syrien und wurde dort im Jahr 187 v. Chr. beim Versuch, einen Tempel Bels – einer seiner eigenen Götter – zu plündern, erschlagen. Infolgedessen übernahm sein Sohn Seleukos IV. Philopator (187–175 v. Chr.) den Thron. Auch er benötigte dringend Geld, um die Römer zu bezahlen. Er versuchte daher sogar, den Tempel in Jerusalem zu plündern ("die Herrlichkeit des Königreichs“ ist der Tempel, V. 20). Letztlich wurde er von seinem Minister Heliodoros ermordet, womit an dieser Stelle der Werdegang des siegreichen Königs endet.

Der zornige König: Vom dritten zum vierten Kopf des dritten Tieres

Der nun folgende Abschnitt beschreibt den Aufstieg und Fall von Antiochus IV. Epiphanes. Dieser ist der zornige König, der im zweiten Chiasmus im Mittelpunkt steht, der wie folgt aufgebaut ist:

  • A Ein Verachteter kommt durch Heucheleien an die Macht (Vv. 21-22)

    • B Die Stärke des zornigen Königs: Täuschung (V. 23)

      • C Betrug, Raub, Lügen (Vv. 24-27)

        • D Wiederstand, das Blatt wendet sich (Vv. 28-30b)

      • C' Glatte Worte, Abfall, Entweihung (Vv. 30b-32a)

    • B' Die Stärke der Juden: Weisheit und Verständnis (Vv. 32b-33a)

  • A' Der Sturz der Verständigen (Vv. 33b-35)

Daniel 11,21-22: Aufstieg eines Verachteten

21 [Infolgedessen wird] an seiner Statt wird ein Verachteter aufstehen, auf den man nicht die Würde des Königtums legen wird; und er wird [in Sicherheit] kommen und durch Schmeicheleien sich des Königtums bemächtigen. 22 Und die überschwemmenden Streitkräfte werden vor ihm überschwemmt und zertrümmert werden, und sogar ein Fürst des Bundes.

— Daniel 11,21-22

Dieser Abschnitt beschreibt den Aufstieg von Antiochus IV. Epiphanes. Er wird während seiner Herrschaft über eine mächtige Armee verfügen und Siege feiern. Auch wird in seiner Regierungszeit die hohepriesterliche Linie zerschlagen.

Antiochus IV. (175–163 v. Chr.) wird als “Verachteter” bezeichnet. Er war nicht der gesetzmäßige Erbe, sondern kam nach dem Tod seines Bruders Seleukos IV. Philopater an die Macht. Anders als sein Vater Antiochus der Große bemühte er sich wenig um die Juden, den Tempel und die Priesterschaft. Er ließ sogar zu, dass das Hohepriesteramt käuflich wurde, was wiederum zu einem verwüstenden Gräuel werden sollte.

Der Fürst (hebr.: nagid) des Bundes ist kein Engel o. ä., wie dies in Daniel 10 der Fall war, da hier ein anderes Wort verwendet wird. Im Englischen wird dieses Wort mit commander übersetzt. In der Chronik wird nagid häufig im priesterlichen Kontext verwendet, sodass mit V. 22 möglicherweise gemeint ist, dass die Linie der rechtmäßigen zadokidischen Hohepriester endet.

An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass Antiochus Epiphanes nicht das Kleine Horn aus Daniel 8 ist. Das Kleine Horn ist Herodes (bzw. die herodianische Dynastie). Antiochus ist dennoch ein Typus und Vorläufer von Herodes, ebenso, wie Belsazar, der “Sohn” Nebukadnezars ein Typus und Vorläufer des Kleinen Hornes darstellte (vgl. Daniel 7). In diesem Abschnitt sehen wir den Sohn von Antiochus des Großen in einer identischen Rolle. Beide hatten einen mächtigen Vater, die die Juden gut behandelten; beide sind gottlos und unterdrückten die Juden.

Daniel 11,23: Die Stärke des zornigen Königs: Täuschung

23 Denn seitdem er sich mit ihm verbündet hat, wird er Trug üben, [infolgedessen] […​] hinaufziehen und mit wenig Volk Macht gewinnen.

— Daniel 11,23

Das Königreich des Nordens ist klein zum Zeitpunkt der Machtübernahme des zornigen Königs. Durch ihn wird das Reich erneut mächtig, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Während dieser Phase der Aufrüstung achtete Antiochus darauf, keine Bedrohung darzustellen, sondern zeigte sich gegenüber Ägypten, den Juden etc. friedfertig.

Antiochus schaffte es, seine Macht in Syrien zu konsolidieren, obwohl er nicht der rechtmäßige Erbe war und ihm daher nicht alle im Reich positiv gegenüberstanden. Tatsächlich gelang ihm diese Konsolidierung so gut, wie es noch keiner seiner Vorfahren vorher erreicht hatte.

Daniel 11,24-27: Betrug, Raub, Lügen

24 Unversehens wird er in die fettesten Gegenden der Landschaft eindringen und („infolgedessen“; und + pf) tun, was weder seine Väter noch die Väter seiner Väter getan haben: Raub und Beute und Gut wird er ihnen zerstreuen und wider die Festungen seine Anschläge ersinnen, und zwar eine Zeitlang.

25 Und er wird seine Kraft und seinen Mut wider den König des Südens erwecken mit einem großen Heere. Und der König des Südens wird sich zum Kriege rüsten mit einem großen und überaus starken Heere; aber er wird nicht bestehen, denn man wird Anschläge wider ihn ersinnen; 26 und die seine Tafelkost essen, werden ihn zerschmettern; und sein Heer wird überschwemmen, und viele Erschlagene werden fallen. 27 Und die beiden Könige: ihre Herzen werden auf Bosheit bedacht sein, und an einem Tische werden sie Lügen reden; aber es wird nicht gelingen, denn das Ende verzieht sich noch bis zur bestimmten Zeit.

— Daniel 11,24-27

Auch in diesem Abschnitt wird deutlich, dass die Herrschaft des zornigen Königs nur von begrenzter Dauer ist. “Das Ende” (Vv. 24, 27) wird kommen – aber welches Ende? Aus der Geschichte lernen wir, dass das Ende seiner Herrschaft über das Heilige Land gemeint ist. Damit endet die dritte Phase (bzw. "`Kopf") des post-alexandrinischen Griechenlands und die vierte und letzte beginnt: Der zornige König wird gegen den König des Südens ziehen und ihn besiegen. Er wird versuchen, eine Allianz mit ihm zu schmieden ("und an einem Tisch werden sie Lügen Reden", V. 27), aber diese wird nicht halten.

Wie erfüllte sich die Prophetie? Im Jahr 169 v. Chr. zog eine ägyptische Armee gegen Palästina, möglicherweise im Glauben, Antiochus sei schwach. Stattdessen “flutet” (V. 26) sein Heer den Feind. Antiochus besetzt Ägypten und verschleppte seinen Neffen Ptolemäus VI. Philometer (180–146 v. Chr.) in Kriegsgefangenschaft. Jedoch gelang es Antiochus nicht, die Hauptstadt Alexandria zu erobern, sodass sich Ptolemäus VII. dort zum König krönen lassen konnte. Damit wurden Antiochus und Ptolemäus VI. durch den gemeinsamen Feind Ptolemäus VII. plötzlich zu Verbündeten: Gemeinsam schmiedeten sie gegen diesen einen Plan – der jedoch auf Lügen basierte, da beide versuchten, den jeweils anderen zu betrügen (V. 27). Sie hatten zunächst Erfolg und teilten sich die ägyptische Herrschaft.

Daniel 11,28-30a: Das Blatt wendet sich

28 A Und er wird mit großem Reichtum in sein Land zurückkehren, B und sein Herz wird wider den heiligen Bund gerichtet sein; B' und [infolgedessen] [wird er] handeln A' und in sein Land zurückkehren.

29 C Zur bestimmten Zeit wird er wiederkehren D und [infolgedessen] gegen den Süden ziehen, E aber es wird zuletzt nicht sein wie im Anfang. 30a D' Denn Schiffe von Kittim werden wider ihn kommen; C' Und er wird verzagen

30b A'' und umkehren; B'' aber er wird den heiligen Bund verfluchen B''' und [entsprechend] handeln: A''' [und] er wird umkehren […​].

— Daniel 11,28-30b

Wir befinden uns nun im Zentrum des zweiten Chiasmus. Ab hier wendet sich das Blatt für den zornigen König. In V. 28 erfahren wir, dass der König siegreich aus Ägypten zurückkehren und auf dem Rückweg sein Herz gegen den “heiligen Bund” richten wird. Dieser Abschnitt ist um das Thema “Rückkehr” gruppiert: A./A'. und A''./A'''. Die beiden äußeren Gruppen sind nahezu identisch, jeweils mit Antiochus Feindschaft gegen den heiligen Bund im Fokus. Im Zentrum finden wir die Begründung für dieses Handeln: Antiochus hatte keinen Erfolg. Seine Wut darüber richtet sich nun gegen den heiligen Bund.

Was passierte tatsächlich? Ende des Jahres 169 v. Chr. kehrte Antiochus ruhmreich aus Ägypten zurück, machte halt in Jerusalem und plünderte den Tempel (als Tributzahlung). Im Jahr 168 v. Chr. zog Antiochus entgegen der Abmachung mit Ptolemäus VI. nach Ägypten. Dieser hatte sich währenddessen mit seinem Bruder Ptolemäus VII. versöhnt, auf Drängen ihrer Schwester Kleopatra II. Antiochus wurde geschlagen, weil die beide Ptolemäer-Könige ein Bündnis mit Rom eingegangen waren, ohne dass Antiochus davon erfahren hatte. Römische Schiffe, aus Zypern ("Kittim") kommend, standen ihm gegenüber, mit Gaius Popillius Laenas an Bord, einem römischen Politiker, der zu Antiochus nach Alexandria gesandt wurde, um diesem ein Ultimatum zu stellen: Entweder er würde sich zurückziehen oder Rom würde ihm den Krieg erklären. Antiochus wusste, dass er keine Chance hatte und gehorchte. Vor seinen Soldaten öffentlich gedemütigt, zog Antiochus – vermutlich rasend vor Wut – zurück nach Syrien. Auf dem Rückweg hielt er erneut in Jerusalem und veranlasste, dass die Stadt zu einer Grenzfestung unter seiner direkten Kontrolle werden sollte.

Um die weitere Geschichte Antiochus verstehen zu können, gilt es zunächst einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und die Frage zu klären, wie sich die Situation zu dieser Zeit in Jerusalem gestaltete (vgl. 2 Makk 3-4). Als Antiochus IV. seine Herrschaft um das Jahr 174 v. Chr. antrat, wurde der rechtmäßige Hohepriester Onias III. von einem gewissen Simon, ein Benjaminiter, vor ihm verleumdet. Simon gehörte zu den Tobiaden, die als liberale, hellenistische orientierte Juden dem konservativen, gläubigen Onias feindlich gesonnen waren. Als dann Jason, Onias hellenistisch orientierter Bruder, der eigentlich Joshua hieß, Antiochus eine große Summe Geld für den Titel des Hohepriesters anbot, willigte dieser sein, vermutlich nicht zuletzt, um seine Kriege finanzieren zu können. Onias wurde abgesetzt und Jason zum Hohepriester geweiht. Unter seinem Einfluss erfuhr Jerusalem eine massive Hellenisierung. Ohne die Duldung seines Handels durch die Priesterschaft wäre dieser Umsturz jedoch nicht möglich gewesen:

13 Und das griechische Wesen und die Aneignung fremder Sitten nahmen durch die übergroße Ruchlosigkeit des gottlosen falschen Hohenpriesters Jason so überhand, 14 dass die Priester nicht mehr eifrig im Dienst am Altar waren, vielmehr den Tempel verachteten und die Opfer vernachlässigten und nach dem Aufruf zum Diskuswerfen zur Kampfbahn liefen und an den gesetzwidrigen Spielen teilnahmen; 15 und was den Vätern eine Ehre war, galt ihnen nichts, aber die griechischen Auszeichnungen hielten sie für ungemein wertvoll. 16 Dafür mussten sie bezahlen; denn gerade die, denen sie in ihren Spielen und auch sonst ganz gleich werden wollten, wurden zu ihren Feinden und Rächern.

— 2 Makk 4,13-16

So schlimm wie diese Entwicklungen auch waren – Jason war immerhin aus der Linie der Zadokiden, wie Gott dies vorgeschrieben hatte (vgl. Hes 40,46; 43,19; 44,15; 48,11). Dies änderte sich, als Jason Menelaos (den Bruder von Simon) zu Antiochus sandte, um diesem sein Tribut zu zahlen. Menelaos ergriff die Gelegenheit und kaufte das Hohepriesteramt für sich selbst (171 v. Chr.). Dieser war nicht aus der Linie Zadoks – von diesem Tag an sollte kein Zadokid jemals mehr als Hohepriester in Israel dienen. All diese Ereignisse gipfelten im “Gräuel der Verwüstung", als Menelaos goldene Gefäße aus dem Tempel stahl und diese Antiochus übergab. Der sich mittlerweile im Exil befindliche Onias III. wies ihn daraufhin öffentlich zurecht, woraufhin Menelaos Onias Ermordung veranlasste. Diese Sünde "`mit erhobener Hand” (vgl. Num 15,30f.) brachte Gottes Zorn, deren Überbringer Antiochus war.

Dies war die Zeit von Antiochus erster ägyptischer Invasion (170–169 v. Chr.). Gerüchte besagten, dass Antiochus getötet worden wäre. Dies nahm Jason zum Anlass, Jerusalem anzugreifen und unter seine Kontrolle zu bringen. Nach einigem Blutvergießen wurde er besiegt und floh. Als Antiochus dies erfuhr, hatte er Sorge, ganz Judäa würde revoltieren. Nachdem er Ptolemäus VI. als Vasall zum ägyptischen König gemacht hatte, zog er gegen Jerusalem. Antiochus traf dort auf Menelaos, der ihn in den Tempel brachte, wo sich Antiochus mit Tempelschätzen bereichern konnte (vgl. 2 Makk 5,15-20). Er ließ er tausende Juden töten, als Strafe für die vermeintliche Rebellion und kehrte zurück nach Syrien. Die jüdischen Priester taten jedoch keine Buße, weshalb nun ein noch größeres Gericht drohte. Während Antiochus Abwesenheit formten die beiden Ptolemäer eine Allianz. Als das Königreich des Nordens im Jahr 168 v. Chr. nochmals gegen den Süden zog, gelang es ihnen, mithilfe der Römer, den Angriff abzuwehren. Antiochus entschied daraufhin, seine Südgrenzen zu sichern und zwang dabei Judäa, eine hellenistische Provinz zu werden.

Antiochus ließ die jüdische Religion mit Gewalt unterdrücken (167 v. Chr. sandte er sogar zu diesem Zweck Truppen nach Jerusalem) und etablierte eine synkretistische hellenistische Religion. Weshalb verhielt er sich auf diese Weise? Aus Gottes Sicht verwüstete er lediglich den Tempel, den Gott bereits verlassen hatte. Aus seiner eigenen Sicht ergab sein Handeln politisch Sinn: Judäa war die einzige Küste, die Syrien blieb, da Ägypten, das südliche Palästina und Kleinasien bereits von den Römern kontrolliert wurde. Daher musste es Antiochus gelingen, Judäa zu befrieden und vollständig unter seine Kontrolle zu bringen.

Antiochus starb im Jahr 164 v. Chr., lediglich drei Jahre später. Die nun folgenden Verse einschließlich V. 35 zeigen die Folgen seiner Herrschaft auf die Juden. Alles was ab V. 36 passiert, kann jedoch nicht Antiochus Epiphanes zugeschrieben werden; stattdessen muss ein anderer König gemeint sein.

Daniel 11,30b-32a: Glatte Worte, Abfall, Entweihung

Wir kommen nun zu den drei letzten Abschnitten, die von Antiochus IV. Epiphanes handeln. Wie wir sehen werden, fanden die meisten dieser Ereignisse bereits vor Antiochus Demütigung durch die Römer statt.

30c und er wird gegen den heiligen Bund ergrimmen und handeln: er wird umkehren und sein Augenmerk auf diejenigen richten, welche den heiligen Bund verlassen. 31 Und Streitkräfte von ihm werden dastehen; und sie werden das Heiligtum, die Feste, entweihen, und werden das beständige Opfer abschaffen und den verwüstenden Gräuel aufstellen. 32a Und diejenigen, welche gottlos handeln gegen den Bund, wird er durch Schmeicheleien zum Abfall verleiten;

— Daniel 11,30b-32a

Wie wir bereits an anderer Stelle gesehen haben, können die in V. 31 beschriebenen Dinge nicht von Antiochus oder seinen Streitkräften verübt worden sein. Nur diejenigen, die rechtmäßigen Zutritt zum Tempel hatten, konnten “den verwüstenden Gräuel aufstellen.” Feindliche Soldaten können im Tempel alle möglichen abscheulichen Dinge tun, aber sie würden ihn dabei nicht entweihen. Wer sind dann die "`Streitkräfte"? Das Wort, das im Urtext verwendet wird, ist "`Arm". Demnach sind damit nicht zwingend Soldaten gemeint, sondern jede Gruppe, die im Auftrag Antiochus handelt. Im konkreten Fall könnten dies Jason und Manelaos sein, die Antiochus dienen und bereits den Tempel verschmutzt und Gräuel verübt haben.

Diese Auslegung wird untermauert, da das Wort für “Gräuel” (hebr.: shiqqutz) ausschließlich im religiösen Kontext (Blasphemie) verwendet wird. Gräuel, die von Juden und Heiden gleichermaßen verübt werden, werden mit toeba übersetzt. “Aufstellen” (V. 31) ist ein Übersetzungsfehler; im Hebräischen wird natan verwendet, das u. a. mit “geben” (auch im Sinne der Handlung des Gebens) übersetzt werden kann. Dieses vergleichsweise neutrale Verb beschreibt Handlungen, die durch den entsprechenden Kontext definiert werden.

Ziel dieses Abschnittes ist es, dem Leser Antiochus Verhalten und das der abgefallenen Juden während seiner Regierungszeit zu verdeutlichen. Die Entscheidung, Judäa zu befrieden, stellt lediglich den Höhepunkt einer Reihe von Ereignissen dar, die bereits sehr viel früher begannen.

Daniel 11,32b-33a: Die Stärke der Juden

32b aber das Volk, welches seinen Gott kennt, wird sich stark erweisen und handeln. 33a Und die Verständigen des Volkes werden die Vielen unterweisen,

— Daniel 11,32b-33a

Die hellenistisch orientierten Juden (aus denen sich später die Sadduzäer entwickeln sollten) schlugen sich naturgemäß auf die Seite von Jason und Manelaos. Die konservativen, gottesfürchtigen Juden hingegen – die sogenannten “Hasidim” (hebr.: hhesed, "`Bundestreue", die späteren Pharisäer) – stellten sich gegen den Zeitgeist.

Daniel 11,33b-35: Sturz der Verständigen

33b A aber sie werden fallen durch Schwert und Flamme, durch Gefangenschaft und Raub, eine Zeitlang. 34 B Und wenn sie fallen, wird ihnen mit einer kleinen Hilfe geholfen werden; C und viele werden sich ihnen mit Heuchelei anschließen. 35 B' Und von den Verständigen werden einige fallen, A' um sie zu läutern und zu reinigen und weiß zu machen bis zur Zeit des Endes; denn es verzieht sich noch bis zur bestimmten Zeit.

— Daniel 11,33b-35

Ebenso wie nahezu alle anderen Abschnitte ist auch der siebte chiastisch aufgebaut. Auffällig ist, dass dort – wie schon im ersten – Heuchelei (wörtlich: "glatte Rede") im Zentrum steht. Durch glatte Rede wurde Antiochus König, durch glatte Rede zog er die abgefallenen Juden auf seine Seite.

Was ist die "`kleine Hilfe"? Diese kleine Hilfe waren die Hasmonäer, ein jüdisches Herrschergeschlecht, das aus dem Aufstand der Makkabäer im Jahr 167 v. Chr. hervorging. Dieser Aufstand ging von den ländlichen Regionen des Landes aus, die deutlich konservativer waren, als die hellenisierten Stadtbewohner und Antiochus äußerst negativ gegenüberstanden. Diese Ereignisse waren eine "`kleine Hilfe", da zumindest der Gottesdienst im Tempel wiederhergestellt wurde; wenngleich nicht die wahre Priesterschaft. Durch den Aufstand wurde Judäa eine unabhängige Nation unter römischem Schutz. Das Ende – das Kommen des Messiahs – ist jedoch noch nicht erreicht. Weitere Schwierigkeiten erwarten die Gerechten, wie wir im weiteren Verlauf des Kapitels sehen werden.

Der gottlose König: Vom vierten Kopf des dritten Tieres zum vierten Tier

Im Mittelpunkt des dritten und letzten Abschnitts steht Herodes. Dieser ist das Kleine Horn des vierten Tieres aus Dan 7. Wir sehen dabei den Übergang vom vierten Kopf des dritten Tieres auf das vierte Tier – das Hellenistische Rom wird vom Imperialistischen Rom abgelöst.

Wir kommen nun zum Werdegang des gottlosen Königs und zum vierten Tier. Dieser dritte Abschnitt ist wie folgt aufgebaut:

  • A Der König wird sich erheben und keinen Helfer brauchen (Vv. 36-37)

    • B Die Festungen des Königs (V. 38)

      • C Die Herrschaft des Königs (V. 39)

        • D Die Niederlage des Königs und Ägyptens (Vv. 40-43)

      • C' Die zornige Herrschaft des Königs (V. 44)

    • B' Die Zelte des Königs (V. 45a)

  • A' Der König kommt an sein Ende und wird keinen Helfer haben (V. 45b)

Daniel 11,36-37: Der König wird sich erheben

36 [Infolgedessen wird] der König […​] nach seinem Gutdünken handeln, und er wird sich erheben und groß machen über jeden Gott, und wider den Gott der Götter wird er Erstaunliches reden; und er wird Gelingen haben, bis die Verfluchung vollendet ist, denn das Festbeschlossene wird vollzogen. 37 Und auf den Gott seiner Väter wird er nicht achten, und weder auf den Schatz der Frauen noch auf irgend einen Gott wird er achten, sondern er wird sich über alles erheben.

— Daniel 11,36-37

Vers 36 beginnt mit der "`und + Perfekt-Form", was diesen mit dem vorhergehenden Vers 35 verbindet. Es scheint einen Zusammenhang zwischen diesem König und dem Stürzen und der Reinigung der Verständigen (d. h. der Gläubigen) zu geben.

Im Zentrum dieses Abschnitts steht die Vollendung der Verfluchung. Dieser Ausdruck erinnert uns an Dan 8,19-23, als der Engel Gabriel Daniel die Vision des Widders und des Ziegenbocks erklärt:

19 Und er sagte: Siehe, ich will dich erkennen lassen, was am Ende der Verfluchung geschehen wird; denn es [gilt] für die [festgesetzte] Zeit des Endes. 20 Der Widder mit den zwei Hörnern, den du gesehen hast, [das] sind die Könige von Medien und Persien. 21 Und der zottige Ziegenbock ist der König von Griechenland. Und das große Horn, das zwischen seinen Augen war, das ist der erste König. 22 Und daß es zerbrach und daß vier [andere] an seiner Stelle auftraten, [bedeutet]: vier Königreiche werden aus der Nation aufstehen, aber nicht mit seiner Macht. 23 Und am Ende ihrer Königsherrschaft, wenn die Abgefallenen das Maß vollgemacht haben, wird ein König aufstehen, mit hartem Gesicht und erfahren in Ränken.

— Dan 8,19-23
(eigene Hervorhebung)

Aus Vers 36 in Verbindung mit Dan 8 wird deutlich, dass das Ende nun tatsächlich Nahe ist, wodurch sich der Aufstieg des gottlosen Königs in die Zeit kurz vor Gottes Gericht 70 n. Chr. einordnen lassen. Dies wird auch in 1 Thess 2,14-16 von Paulus bestätigt:

14 Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch sie von den Juden, 15 die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, 16 indem sie —- um ihr Sünden[maß] stets voll zu machen —- uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.

— 1 Thess 2,14-16

In den Evangelien wird, außer Jesus, nur eine weitere Personengruppe als Könige bezeichnet – die Herodianer:

  • Herodes der Große (Mt 2,2-9; Lk 1,5)

  • Herodes Antipas (Mk 6,14-27)

  • Herodes Agrippa I. (Apg 12,1.19)

  • Herodes Agrippa II. (Apg 25,13-26,30)

Wir erinnern uns, die Herodianer sind das Kleine Horn aus Dan 7 – Nachfolger von Esau, diejenigen, die den Tempel in Jerusalem wieder aufbauten, aber mit römischer Symbolik entweihten und diejenigen, die den Kindermord in der Zeit von Jesus Geburt befahlen. Die Herodianer (möglicherweise auch nur einer von ihnen) sind es, die im dritten Abschnitt im Fokus stehen.

Vers 37 wird später von Paulus in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher aufgegriffen:

3 Laßt euch von niemand auf irgendeine Weise verführen, denn [dieser Tag kommt nicht], es sei denn, daß zuerst der Abfall gekommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit geoffenbart worden ist, der Sohn des Verderbens; 4 der sich widersetzt und sich überhebt über alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und sich ausweist, daß er Gott sei.

— 2 Thess 2,3-4

Was ist der „Schatz der Frauen“ (V. 37)? Das Wort, dass in der Elberfelder Bibel mit „Schatz“ übersetzt wird, ist chemdah. Eine bessere Übersetzung wäre Verlangen, Sehnsucht, Wunsch (die KJV übersetzt mit “desire"). Die wahrscheinlichste Auslegung ist, dass damit der Messiahs gemeint ist. Aus Gen 3 wissen wir, dass das „Verlangen“ der Frau sein wird, den Samen zu tragen, der der Schlange die Ferse zermalmt. Herodes als "`Same der Schlange” möchte sich selbst zum Gott machen und versucht deswegen, den Samen der Frau zu zerstören. Er ist sozusagen das Konterfei des „Neuen Adams“.

Daniel 11,38: Die Festungen des Königs

38 Und an dessen Statt wird er den Gott der Festungen ehren: den Gott, den seine Väter nicht gekannt haben, wird er ehren mit Gold und mit Silber und mit Edelsteinen und mit Kleinodien. 39a Und er wird gegen die starken Festungen so verfahren mit dem fremden Gott: […​]

— Daniel 11,38-39a

Herodes wird den „Gott der Festungen ehren“, wie im folgenden Vers zu lesen ist. Er verwirft den Gott seiner Vorväter, sondern verehrt und dient einer unpersönlichen Gottheit – der Macht. Eine Kultur, in der rohe Macht gottgleich verehrte wurde, war die der Römer. Die Römer waren es letztlich, denen Herodes diese Macht verdankte.

„Gott der Festungen“ umfasst sicherlich auch Herodes’ tatsächliche Festungen – Jerusalem, Jericho und zahllose weitere Bauprojekte, inklusive des Tempels. Interessant ist in diesem Kontext, dass die Pharisäer, insbesondere die Zeloten, deren militanter Arm, den Wunsch hatten, sich vom römischen Joch zu befreien. Sie wollten einen starken Gott, einen Gott der Festungen. Nachdem offensichtlich wurde, dass Jesus nicht dieser Gott ist, kreuzigten sie ihn.

Daniel 11,39b: Die Herrschaft des Königs

39b wer ihm Anerkennung zollt, dem wird er viel Ehre erweisen, und er wird ihm Herrschaft verleihen über die Vielen und das Land austeilen zum Lohne.

— Daniel 11,39b

Herodes wird „das Land zum Lohn austeilen“, denen, die ihn anerkennen. Tatsächlich legte Gott die Regeln fest, wie Land verteilt werden darf (z. B. Num 32; Num 33,50-56; Num 34-35, Dtn 3,12-20, Jos 13-19.20-22 etc.). Auch damit stellt er sich über JHWH, den wahren König Israels.

Daniel 11,40-43: Die Niederlage des Königs und Ägyptens

40 A Und zur Zeit des Endes wird der König des Südens mit ihm zusammenstoßen, und der König des Nordens wird gegen ihn anstürmen mit Wagen und mit Reitern und mit vielen Schiffen; und er wird in die Länder eindringen und wird sie überschwemmen und überfluten. 41 Und er wird in das Land der Zierde eindringen, B und viele Länder werden zu Fall kommen; C diese aber werden seiner Hand entrinnen: Edom und Moab und die Vornehmsten der Kinder Ammon. 42 C' Und er wird seine Hand an die Länder legen, B' und das Land Ägypten wird nicht entrinnen; 43 und er wird die Schätze an Gold und Silber und alle Kostbarkeiten Ägyptens in seine Gewalt bringen, A' und Libyer und Äthiopier werden in seinem Gefolge sein.

— Daniel 11,40-43

Wir kommen nun zur „Zeit des Endes“ und damit zum Zentrum chiastisch aufgebauten des dritten Abschnitts. Der gottlose König ist nun mit den Ägyptern verbündet, aber der König des Nordens wird zu Land und zur See angreifen und die Länder „überfluten“, auch das Heilige Land. Für „zusammenstoßen“ wird im Hebräischen nagach verwendet, was sich mit „durchbohren“, „aufspießen“ übersetzen lässt. Laut Jordan würden die Präpositionen jedoch darauf hindeuten, dass sich gottlose König mit dem König des Südens gegen den König des Nordens verbündet. Die Seemacht erinnert uns an die Schiffe, die aus Zypern kamen und Ägypten beschützten (V. 30). Ägypten wird fallen, aber die Länder unmittelbar um das Heilige Land werden standhalten (V. 41).

Die beschriebenen Ereignisse erfüllen sich in der Schlacht von Actium 31 v. Chr. vor der Westküste Griechenlands. Zu dieser Zeit hatte Rom bereits das griechische Syrien unterworfen und unter die Herrschaft des römischen Senats gebracht. Damit wurde das Hellenistische Rom – die Republik Rom, der vierte Kopf des Griechischen Tieres (Dan 8) – der neue „König des Nordens.“ Zudem sicherten sie sich die Vorherrschaft über Palästina und Ägypten, erlaubten jedoch lokalen Königen, zu regieren (im Sinne einer Hegemonie): die Herodianer in Palästina und Kleopatra VII. in Ägypten.

Die Schlacht von Actium besiegelte das Ende der römischen Republik. Octavian besiegte mit Hilfe von Marcus Agrippa in dieser Schlacht, die gemäß Plutarch mit Wägen, Reitern und Schiffen geführt wurde, seinen Gegenspieler Marcus Antonius und die ägyptische Königin Kleopatra VII. und sicherte sich damit die Alleinherrschaft im Römischen Reich.

Wie korrespondieren die einzelnen Verse mit den tatsächlichen Ereignissen?

  • Vers 41: Oktavian kommt nach Palästina, Herodes wechselt die Seiten und verbündet sich mit ihm. Oktavian sandte unter Aelius Gallus Truppen nach Edom, Moab und Ammon; Herodes unterstützt ihn hierbei mit Soldaten. Jedoch konnte kein Sieg errungen werden.

  • Vers 42: Währenddessen eroberte Oktavian weitere Länder, darunter Ägypten. Marcus Antonius und Kleopatra begingen Selbstmord.

  • Vers 43: Oktavian (und damit Rom) übernahmen die Kontrolle über Ägypten und damit deren großen Reichtum. Unter Cornelius Balbus eroberte Rom Libyen und Äthiopien.

Damit beschreibt dieser Abschnitt das Kommen des vierten Tieres aus Daniel 7 und die Ablösung des vierten griechischen Tieres: Oktavian wird zum ersten römischen Kaiser Augustus. „Anstürmen“ (V. 40) ist die deutsche Übersetzung des hebräischen sa’ar und ist eng mit dem Wort sa’ir verwandt – was „(haarige) Ziege“ bedeutet. Wir erinnern uns, dass Griechenland in Daniel 8 der Ziegenbock ist, der den Widder Persien stürmt und überrennt.

Die Zeit, in der diese Ereignisse passieren, wird als „Zeit des Endes“ beschrieben. Mit dem Übergang zum letzten der vier Tiere sind wir nun am „Anfang des Endes“ angekommen.

Daniel 11,44: Die zornige Herrschaft des Königs

44 Aber Gerüchte von Osten und von Norden her werden ihn erschrecken; und er wird ausziehen in großem Grimme, um viele zu vernichten und zu vertilgen.

— Daniel 11,44

Vers 44 hat erneut Herodes im Blick. Aus dem Kontext der vorhergehenden Verse ergibt sich, dass „er“ der König des Nordens ist. In Vers 41 dringt er in das Heilige Land ein und erobert viele Nationen, außer Edom, Moab und Ammon. In Vers 42 und 43 wird die Aufzählung fortgesetzt, in einer militärischen Kampagne und offensichtlich zusammenhängend berichtet.

In Vers 44 lesen wir jedoch, dass ihn“Gerüchte aus dem Osten und Norden erschrecken. Dass damit der König des Nordens gemeint ist, erscheint daher unwahrscheinlich, insbesondere, da die Himmelsrichtungen im gesamten Kapitel Personifikationen darstellen. Was sind dann die Gerüchte? – Herodes’ Sohn Antipater plante eine Verschwörung gegen seinen Vater. Herodes erfuhr davon und ließ ihn töten. Und die Gerüchte aus dem Osten? – In Mt 2,1-3 lesen wir folgendes:

1 Als aber Jesus zu Bethlehem in Judäa geboren war, in den Tagen des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise vom Morgenland (wörtlich: „dem Sonnenaufgang“, „dem Osten“) nach Jerusalem, die sprachen: 2 Wo ist der König der Juden, der geboren worden ist? Denn wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen und sind gekommen, ihm zu huldigen. 3 Als aber der König Herodes es hörte, wurde er bestürzt und ganz Jerusalem mit ihm.

— Mt 2,1-3

Die Gerüchte aus dem Osten sind die Gerüchte über die Geburt des Messiahs.

Daniel 11,45a: Die Zelte des Königs

45a Und er wird seine Königszelte aufschlagen zwischen dem Meere und dem Berge der heiligen Zierde.

— Daniel 11,45a

In der ersten Hälfte von V. 45 wird beschrieben, dass Herodes seine Königszelte zwischen „dem Meer und dem Berg der heiligen Zierde“ aufstellen wird. „Königszelte“ ist die chiastische Parallele von den „Festungen“ aus Abschnitt 2. Tatsächlich hatte Herodes zwei Paläste in Jerusalem, einen im Tempelareal und einen in der oberen Stadt. Beide werden erwähnt, weil Herodes versucht, den Platz, der eigentlich dem messianischen König zustehen würde, für sich selbst zu übernehmen.

Diese Ereignisse erinnern uns stark an Psalm 48:

1 Ein Lied. Ein Psalm. Von den Söhnen Korachs. 2 Groß ist der HERR und sehr zu loben in der Stadt unseres Gottes. Sein heiliger Berg 3 ragt schön empor, eine Freude der ganzen Erde; der Berg Zion, im äußersten Norden, die Stadt des großen Königs. 4 Gott ist in ihren Palästen, bekannt als Zuflucht. 5 Denn siehe, die Könige hatten sich verabredet, waren herangezogen miteinander. 6 Sie sahen, da staunten sie; sie wurden bestürzt, [von Angst] fortgetrieben. 7 Zittern ergriff sie dort, Wehen wie die Gebärende. 8 Durch den Ostwind zertrümmerst du die Tarsisschiffe. 9 Wie wir gehört haben, so haben wir es gesehen in der Stadt des HERRN der Heerscharen, in der Stadt unseres Gottes; Gott wird sie fest gründen bis in Ewigkeit. 10 Wir haben nachgedacht, o Gott, über deine Gnade im Innern deines Tempels. 11 Wie dein Name, Gott, so ist dein Ruhm bis an die Enden der Erde; mit Gerechtigkeit ist gefüllt deine Rechte. 12 Es freue sich der Berg Zion, es sollen frohlocken die Töchter Judas über deine Gerichte! 13 Zieht rund um Zion und umkreist ihn, zählt seine Türme; 14 richtet euer Herz auf seine Wälle, mustert seine Paläste, damit ihr erzählt dem künftigen Geschlecht: 15 Ja, dieser ist Gott, unser Gott immer und ewig! Er wird uns leiten.“

— Psalm 48

Daniel 11,45b: Der König kommt an sein Ende

45b Und er wird zu seinem Ende kommen, und niemand wird ihm helfen.

— Daniel 11,45b

Dann wird Herodes’ Ende kommen. Herodes verachtete Gott und jetzt verachtet Gott ihn und hilft ihm nicht. Niemand kommt ihm zu Hilfe – Herodes stirbt, von allen verhasst, als König, der nicht einmal davor zurückschreckte, eigene Familienmitglieder umbringen zu lassen.