Daniel 10

Daniel 10

Dominic Lottes, 11.11.2019

Einleitung

Daniel 10,1-4: Daniels Trübsal

10,1 Im dritten Jahre Kores’, des Königs von Persien, wurde dem Daniel, welcher Beltsazar genannt wird, eine Sache geoffenbart, und die Sache ist Wahrheit und betrifft eine große Mühsal; und er verstand die Sache und bekam Verständnis über das Gesicht.

2 In selbigen Tagen trauerte ich, Daniel, drei volle Wochen. 3 Köstliche Speise aß ich nicht, und weder Fleisch noch Wein kam in meinen Mund; und ich salbte mich nicht, bis drei volle Wochen um waren. 4 Und am vierundzwanzigsten Tage des ersten Monats, da war ich am Ufer des großen Stromes, das ist der Hiddekel.

— Daniel 10,1-4

Nachdem der Rest des Kapitels in der Ich-Perspektive, also von Daniel selbst, geschrieben ist, beginnt das Kapitel mit einer kurzen Einführung, die vermutlich vom „Herausgeber“ des Buchs ergänzt wurde. Daniel trauerte – obwohl das babylonische Exil zu dieser Zeit bereits vorüber war. Zwei Jahre zuvor hatte Kyros das Dekret erlassen, dass alle Juden nach Hause kehren dürfen. Dennoch schien es ein Problem gegeben zu haben. Aus Esra 4 wissen wir, dass eine Protestbewegung entstand, die den Bau des Tempels und insbesondere den Wiederaufbau Jerusalems verhindern wollte.

Daniel isst in dieser Zeit der Trauer nicht, bis ihm nach mehr als drei Wochen Fasten ein in Leinen gekleideter Mann erscheint. Daniels Trübsal endet mit dem Kommen des in Leinen gekleideten Mannes (V. 5) und erreicht dabei ihren Höhepunkt: seine Gesichtsfarbe verändert sich bis zur Entstellung und ihm bleibt keine Kraft (V. 8). Dies ist eindeutig ein symbolischer Tod [1]. Daniel wird berührt und das Leben kehrt in ihn zurück (V. 10) – eine symbolische Auferstehung. Daniel nimmt damit die kommende Trübsal seines Volkes bis hin zum Kommen des Messiahs und der „Großen Trübsal“ vorweg. Auch an deren Ende wird es eine Auferstehung geben – die der Juden (Dan 12,1-3).

Daniels Vision ereignet am 24. Tag im ersten Monat nach drei vollen Wochen der Trauer. Der erste Monat im Jahr ist Nisan – der Monat der Erlösung, in dem die jüdischen Vorfahren aus Ägypten auszogen. Was wurde gefeiert? Das Passahfest. Wann wurde Jesus gekreuzigt? Am Morgen des Passahfestes. Wann wurde das Passahfest gefeiert? Vom 15. bis zum 21. Tag des Monats. Jede der Trauerwochen korrespondiert mit späteren tatsächlichen Ereignissen, die im Verlauf der Vision beschrieben werden. Daraus ergibt sich folgende Struktur:

  1. Tage 1-2: vor Daniels dreiwöchiger Trauer

    1. Tage 3-9: Woche 1, Ägypten bis Antiochus III.

    2. Tage 10-16: Woche 2, Antiochus IV. bis zu den Makkabäern

    3. Tage 17-23: Woche 3, Herodes

  2. Tag 24: Tod und Auferstehung

Daniel 10,5-6: Der Mann in Leinen

5 Und ich erhob meine Augen und sah: und siehe, da war ein Mann in Linnen gekleidet, und seine Lenden waren umgürtet mit Gold von Uphas; 6 und sein Leib war wie ein Chrysolith, und sein Angesicht wie das Aussehen des Blitzes, und seine Augen wie Feuerfackeln, und seine Arme und seine Füße wie der Anblick von leuchtendem Erze; und die Stimme seiner Worte war wie die Stimme einer Menge.

— Daniel 10,5-6

Daniels Zustand steht im krassen Gegensatz zu der Person, die als nächstes erscheint: der Mann in Leinen. Wer ist diese Person? Die Antworten finden wir in Ex 28,39-43, wo die Kleidung von Aaron, dem ersten Hohepriester Israels beschrieben wird. Der Mann in Leinen ist der Wahre Hohepriester. Dieser wahre Hohepriester wird in der Sprache von Edelsteinen und Metall beschrieben. Metall erinnert uns an die Statue aus Dan 2. Dieses Bild repräsentierte Gottes Haus im Oikumene-Zeitalter. Die Stiftshütte bestand aus Holz und Stoff, der Tempel aus Holz und Stein – jetzt sind wir bei Metallen. Dementsprechend wird auch der Hohepriester „metallisch“ beschrieben.

Auffällig ist, dass Leinen in Verbindung mit der hohepriesterlichen Kleidung nur beim Versöhnungstag genannt werden (Lev 16). Am Versöhnungstag tauschte der Hohepriester seine prächtigen Gewänder gegen einfache Kleidung aus Leinen. Er war beauftragt, Sühnung für die Sünden des Volks in einem Jahr zu erwirken. Nachdem er das getan hatte, konnte er sich wieder umziehen und wurde damit wieder als Hohepriester, als oberster religiöser Herrscher über Israel, eingesetzt. Dieses stille Ritual war damit eine Darstellung von Vergebung und Rechtfertigung. Es sollte sich jedoch zeigen, dass es bis zur Zeit von Jesus keinen Versöhnungstag mehr geben sollte. Nachdem das „Gräuel der Verwüstung“ durch die Priester verübt wurde, gab es keinen rechtmäßigen Hohepriester mehr, der das Ritual hätte durchführen dürfen.

Daniel 10,7-9: Daniels Tod

7 Und ich, Daniel, allein sah das Gesicht; die Männer aber, welche bei mir waren, sahen das Gesicht nicht; doch fiel ein großer Schrecken auf sie, und sie flohen und verbargen sich.

8 Und ich blieb allein übrig und sah dieses große Gesicht; und es blieb keine Kraft in mir, und meine Gesichtsfarbe verwandelte sich an mir bis zur Entstellung („Zerstörung“), und ich behielt keine Kraft.

9 Und ich hörte die Stimme seiner Worte; und als ich die Stimme seiner Worte hörte, sank ich betäubt [2] auf mein Angesicht, mit meinem Angesicht zur Erde.

— Daniel 10,7-9

Daniels symbolischer Tod steht im Zentrum des ersten Kapitels, womit wir zurück zum Passahfestthema kommen. Das Wort, das in unserer Bibel mit „bis zur Entstellung“ (Elberfelder) oder „ich ward sehr entstellt“ (Luther) übersetzt wird, lautet im Hebräischen „mashchiyth“ und bedeutet „Zerstörung“. Dieses Wort (H4889) kommt in der Bibel insgesamt 16 mal vor, u. a. in Ex 12,23 – beim ersten Passahfest in Ägypten wird der Todesengel mit diesem Wort beschrieben.

Und Jehova wird hindurchgehen, die Ägypter zu schlagen; und sieht er das Blut an der Oberschwelle und an den beiden Pfosten, so wird Jehova an der Tür vorübergehen und wird dem Verderber nicht erlauben, in eure Häuser zu kommen, um zu schlagen.

— Exodus 12,23

Daniel fastet während des Passahfestes, nahm somit nicht daran teil und opferte damit auch kein Lamm oder Ziege. Deshalb muss Daniel "sterben", er stirbt stellvertretend für sein Volk. Daniels eigene Zerstörung als Passahlamm ermöglicht das neue Leben seines Volkes, dass der Engel bringen wird, wenn er den König von Persien besiegt. Daniel ermöglicht durch sein Opfer, dass Kyros’ Dekret tatsächlich ausgeführt wird und Jerusalem und der Tempel wieder aufgebaut werden.

Daniel 10,10-15: Engel, Fürsten und Könige

10 Und siehe, eine Hand rührte mich an und machte, daß ich auf meine Knie und Hände emporwankte. 11 Und er sprach zu mir: Daniel, du vielgeliebter Mann! Merke auf die Worte, die ich zu dir rede, und stehe auf deiner Stelle; denn ich bin jetzt zu dir gesandt. Und als er dieses Wort zu mir redete, stand ich zitternd auf.

12 Und er sprach zu mir: Fürchte dich nicht, Daniel! Denn von dem ersten Tage an, da du dein Herz darauf gerichtet hast, Verständnis zu erlangen und dich vor deinem Gott zu demütigen, sind deine Worte erhört worden; und um deiner Worte willen bin ich gekommen. 13 Aber der Fürst des Königreichs Persien stand mir einundzwanzig Tage entgegen; und siehe, Michael, einer der ersten Fürsten, kam, um mir zu helfen, und ich trug daselbst den Sieg davon bei den Königen von Persien. 14 Und ich bin gekommen, um dich verstehen zu lassen, was deinem Volke am Ende der Tage widerfahren wird; denn das Gesicht geht noch auf ferne Tage. 15 Und als er in dieser Weise mit mir redete, richtete ich mein Angesicht zur Erde und verstummte.

— Daniel 10,10-15

Dieser Abschnitt beginnt damit, dass Daniel berührt und angesprochen wird. Zunächst wollen wir die Frage beantworten, wer die genannten Personen in diesem Abschnitt sind. Wir lesen von einem Sprecher, von Michael, von den Fürsten der Königreiche Persien und Griechenland und von drei Königen.

Der Sprecher ist vermutlich der Engel Gabriel. In Dan 9,21 wird er als dieser erkannt, wenngleich dies für dieses Kapitel nicht unmittelbar beweisbar ist. Michael, „einer der ersten Fürsten“ (Dan 10,13), ist Jesus, dieselbe Person wie der Mann, der über dem Tigris schwebte. Den Beweis finden wir in Sacharja und im Judasbrief. [3]

Und er ließ mich den Hohenpriester Joshuas sehen, der vor dem Engel des HERRN stand; und der Satan stand zu seiner Rechten, um ihn anzuklagen. Und der HERR sprach zum Satan: Der HERR wird dich bedrohen, Satan! […​]

— Sacharja 3,1–2

Michael aber, der Erzengel, wagte nicht, als er mit dem Teufel stritt und Wortwechsel um den Leib Moses [4] hatte, ein lästerndes Urteil zu fällen, sondern sprach: Der Herr schelte dich!

— Judas 9

Wer ist der Fürst des Königreichs Persien (im Gegensatz zu den Königen von Persien, Dan 10,13)? Auch hier existieren zahlreiche Interpretationsansätze. Plausibel, wie wir in Kürze sehen werden, ist dieser: Die Könige von Persien sind die Könige von Persien, Kyros, Kambyses etc. Der Fürst des Königreichs Persien ist ein böser Engel. Ebenso wie Gabriel der Oberherr der Oikumene ist, so existiert ein gefallener Engel, der über Persien (und Griechenland) herrscht. Nachdem wir die handelnden Personen identifiziert haben, können wir daraus folgende Handlung rekonstruieren:

  1. Kyros übernahm den Thron der Oikumene, nachdem er Babylon erobert hatte. Kyros war zu diesem Zeitpunkt bereits konvertiert und entschied, Daniel Verantwortung zu übertragen. Daniel wurde angegriffen, aber Gabriel stärkte Kyros und Daniel wurde geholfen (Dan 6; 11,1).

  2. In seinem ersten Regierungsjahr machte Kyros Kambyses zu seinem Vizeregenten, jedoch setzte ihn Kyros kurze Zeit später wieder ab – möglicherweise, weil Kambyses die Juden bekämpfte und versuchte, den Tempelbau zu stoppen.

  3. Zwei Jahre später entschied Kyros, während seiner Abwesenheit (Feldzug!) Kambyses die Verantwortung zu übertragen und bestimmte ihn zu seinem Nachfolger. Daniel begann zu trauern, als Kambyses Mitregent wurde, woraus sich schließen lässt, dass Daniel zu diesem Zeitpunkt bereits keine Macht mehr im Reich hatte und daher den Juden nicht helfen konnte.

  4. Der böse Engel von Persien hilft Kambyses. Dabei stand ihm Gabriel gegenüber, der jedoch 21 Tage lang keinen Sieg erringen konnte (Dan 10,13). Gabriel benötigte die Hilfe von Michael, um Kyros zu überzeugen, einzugreifen.

  5. Währenddessen flehte Daniel zu Gott und seine Gebete wurden von Michael gehört, dem Engel von Jahwe. Daniel nahm am Passahfest nicht teil und nahm damit die damit verbundene Zerstörung als menschliches Opfer auf sich. Michael sah dies und kam, um Daniels Gebet und Gabriels Bitte zu erhören.

  6. Michael erschien Daniel (und Gabriel) über dem Tigris. Damit macht er deutlich, dass er Gabriel gegen den Engel von Persien zur Hilfe kam. Daniel erfuhr den Tod für sein Volk und wurde vom Staub auferweckt – ein Zeichen, dass Gott das Opfer angenehm war.

  7. Gabriel erklärte Daniel die Vision und brach auf, um mit Michaels Hilfe gegen den Engel von Persien zu kämpfen (Dan 10,20). Mit Michaels Hilfe konnten sie Kyros überzeugen, den Juden zu helfen.

Daniel 10,16-19: Daniels Auferstehung

16 Und siehe, einer, den Menschenkindern [5] gleich, berührte meine Lippen; und ich tat meinen Mund auf und redete und sprach zu dem, der vor mir stand: Mein Herr, wegen des Gesichts überfielen mich die Wehen, und ich habe keine Kraft behalten. 17 Und wie vermag ein Knecht dieses meines Herrn mit diesem meinem Herrn zu reden? Und ich, von nun an bleibt keine Kraft mehr in mir, und kein Odem ist in mir übrig. 18 Da rührte mich wiederum einer an, von Aussehen wie ein Mensch, und stärkte mich.

19 Und er sprach: Fürchte dich nicht, du vielgeliebter Mann! Friede dir! Sei stark, ja, sei stark! Und als er mit mir redete, fühlte ich mich gestärkt und sprach: Mein Herr möge reden, denn du hast mich gestärkt.

— Daniel 10,16-19

Der „im Aussehen wie ein Mensch war“ (vgl. Dan 10,16.18) ist der Engel Gabriel. In Dan 8,16 wird Gabriel namentlich erwähnt und mit dem „Aussehen eines Mannes“ (Dan 8,15; hebr. geber – starker, mächtiger Mann) beschrieben.

In Kapitel 10 ist von insgesamt drei Berührungen die Rede: Daniel muss erst gestärkt werden, bevor er hören kann. Auch bei Jesus ist dies später so: Er suchte die schwachen und kaputten Menschen – dem „Tod“ nahe Menschen – und heilte sie erst, bevor er sie aufforderte, ihm nachzufolgen. Ein deutliches Beispiel hierfür finden wir in Joh 9: Erst heilt Jesus den Blinden und macht ihn wieder sehend, dann fordert er ihn zum Glauben auf. Das gleiche Muster finden wir z. B. auch in Mk 5 bei dem Besessenen im Land der Gerasener.

Daniel 10,20-11,2: Michael, der einzige Helfer

20 Da sprach er: Weißt du, warum ich zu dir gekommen bin? Und jetzt werde ich zurückkehren, um mit dem Fürsten von Persien zu streiten; aber wenn ich ausziehe, siehe, so wird der Fürst von Griechenland kommen. 21 Doch will ich dir kundtun, was in dem Buche der Wahrheit verzeichnet ist [6]. Und es ist kein einziger, der mir wider jene mutig beisteht, als nur Michael, euer Fürst. 11,1 Und auch ich stand im ersten Jahre Darius’, des Meders, ihm bei als Helfer und Schutz. 2 Und nun will ich dir die Wahrheit kundtun: […​]

— Daniel 10,20-11,2

Der letzte Abschnitt beinhaltet drei Aussagen, die chiastisch angeordnet sind. Die Verse A und A' beschreiben Gabriels Aufgaben, B und B' begründen, weshalb Gabriel zu Daniel kam – nämlich, um ihm Wahrheit mitzuteilen – und C bzw. C’ betreffen Persien und Griechenland sowie Michaels Eingreifen. Dieser Abschnitt ist programmatisch für die darauf folgenden beiden Kapitel, wo es darum geht, die Zukunft zu offenbaren: Erst Persien, dann Griechenland, dann Michael.

  • A Vergangenheit: Kampf gegen den Engel von Persien (V. 20a)

    • B Gegenwart: Griechenland erstarkt, Wahrheit wird offenbart (Vv. 20b-21a)

      • C Zukunft: Michael wird helfen (V. 21b)

      • C' Vergangenheit: Darius der Meder (V. 11,1)

    • B' Gegenwart: Wahrheit wird mitgeteilt (V. 11,2a)

  • A' Zukunft: Persien und Griechenland und Michael (Vv. 11,2b-12,3)


1. Vgl. Gen 2,21; gemeint ist ein tiefer, todesähnlicher Schlaf.
2. Wörtlich: „in einem tiefen Schlaf“
3. „Bedrohen“ und „schelten“ meint das Gleiche (in der King-James-Übersetzung wird beides mit „rebuke“ übersetzt; hier sind wir wieder bei der Problematik der inkonsistenten Übersetzung, dazu kommt die Thematik hebräischer und griechischer Urtext).
4. Der „Leib Mose“ symbolisiert das Volk Israel, genauso wie der „Leib Christi“ die Gemeinde symbolisiert.
5. Wörtlich: „den Söhnen Adams“
6. Das heißt: „bevor ich zurückgehe, um mit dem Fürst von Griechenland zu kämpfen.“