Die Rekapitulation des Bundes in der Geschichte des Neuen Testaments

Die Rekapitulation des Bundes in der Geschichte des Neuen Testaments

Peter Leithart, 26.04.1995

John Wenhams Redating Matthew, Mark & Luke: A Fresh Assault on the Synoptic Problem[1] ist eine beeindruckend detaillierte Untersuchung des sogenannten »synoptischen Problems«. Mir fehlt sowohl die Geduld als auch das Wissen, um Wenhams Beitrag zu dieser schwierigen Frage zu bewerten. Mein Ziel ist es stattdessen, seine Schlussfolgerungen zur Datierung der Evangelien zusammenzufassen, die ich dann als Ausgangspunkt für weiterreichende und radikalere Vorschläge verwenden werde.

Wenham verteidigt die sogenannte »augustinische« Ansicht, dass die Evangelien in der kanonischen Reihenfolge verfasst wurden (d. h. Matthäus war das erste Evangelium, Markus das zweite usw.). Darüber hinaus argumentiert er für eine wesentlich frühere Datierung der Evangelien, als moderne Gelehrte allgemein akzeptieren: »Es besteht breite Einigkeit unter Neutestamentlern, dass kein Evangelium vor den späten 60er Jahren datiert werden sollte. In der Regel wird Markus zuerst um das Jahr 70 eingeordnet, während Matthäus und Lukas etwas später folgen. Dieses Buch wird argumentieren, dass alle drei wahrscheinlich vor 55 entstanden sind« (S. xxii). Wie Wenham sagt, stellt dies eine radikale Abkehr von der allgemein anerkannten Ansicht über sowohl die Datierung als auch die Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien dar.

Das Kernstück von Wenhams Argumentation ist seine Schlussfolgerung, dass die Apostelgeschichte um das Jahr 62 abgeschlossen wurde. Er stellt fest, dass »die einzige zufriedenstellende Erklärung für das Schweigen des Verfassers über den Prozess [des Paulus]…​ darin besteht, dass dieser zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht stattgefunden hatte« (S. xxii, 225-229); das Ende der Apostelgeschichte gibt somit ihren Zeitpunkt an: zwei Jahre nach Paulus' Ankunft in Rom 59/60 (Apg 28,30-31). Darüber hinaus macht das positive Bild der römischen Behörden es wahrscheinlich, dass die Apostelgeschichte vor der neronischen Verfolgung von 64 verfasst wurde.

Nachdem Wenham das Datum der Apostelgeschichte festgelegt hat, bringt er die synoptischen Evangelien mit ihr in Verbindung. Apostelgeschichte 1,1 zeigt, dass sie nach dem Lukasevangelium geschrieben wurde. Wenham schlägt vor, dass das Lukasevangelium Mitte der 50er Jahre erschien, basierend auf der folgenden Argumentation (S. 229-238): Die Überlieferung besagt, dass Paulus auf Lukas Bezug nahm, als er von »dem Bruder, dessen Ruhm im Evangelium durch alle Gemeinden verbreitet ist« (2 Kor 8,18) sprach. Wenham verteidigt diese Überlieferung und argumentiert, dass Lukas' »Ruhm im Evangelium« aus der weiten Verbreitung seines Evangeliums resultierte. Da der zweite Korintherbrief um 56 geschrieben wurde, muss das Lukasevangelium »bis spätestens 55« abgeschlossen gewesen sein (S. 237). Dies passt zu den Belegen in der Apostelgeschichte, wo Lukas und Paulus sich in den frühen und mittleren 50er Jahren für mehrere Jahre trennten (die »wir«-Passagen enden in Apg 16 in Philippi und setzen sich in Apg 20 fort).

Wenham akzeptiert die gängige Ansicht, dass Lukas das Markus-Evangelium kannte und nutzte; wenn die vorherige Argumentation korrekt ist, muss Markus also vor 55 geschrieben worden sein. Wenham beruft sich erneut auf die Traditionen über die Abhängigkeit des Markus-Evangeliums von Petrus und argumentiert, dass die beiden von 42-44 zusammen in Rom waren (S. 146-172). Als Petrus Rom im Jahr 44 verließ, so spekuliert Wenham, begann Markus, die Lehren des Petrus in einer dauerhaften Form festzuhalten. Daher ist für Markus »jedes Datum zwischen 44 und der Abfassung des Lukas-Evangeliums in den frühen 50ern […​] möglich« (S. 238).

Die Theorie der Markushypothese hat die Evangelienforschung im letzten Jahrhundert dominiert, doch in jüngster Zeit gibt es verstärkten Widerspruch. Wenham argumentiert, dass die Argumente für die Priorität des Markus entweder umkehrbar oder fehlerhaft sind, und plädiert für die Priorität des Matthäus. Positiv argumentiert er, dass die Priorität des Matthäus die Unterschiede in der Reihenfolge der Evangelien besser erklärt und Beweise dafür liefert, dass Markus Matthäus absichtlich gekürzt hat. Nachdem er das Markus-Evangelium auf einen Zeitraum zwischen 45 und den frühen 50ern datiert hat, schlägt er vor, dass Matthäus um 40 abgeschlossen wurde. (Eusebius sagte, es sei 41 geschrieben worden.)

Wenhams Argumentation für die Reihenfolge und Beziehung der Evangelien ist sowohl mit den internen Belegen als auch mit den Aussagen der Kirchenväter vereinbar. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es einen Grund gibt, die Evangelien so spät zu datieren, wie Wenham es tut. Die Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten fanden im Jahr 30 statt. Warum hätte Matthäus ein Jahrzehnt warten sollen, um ein Evangelium zu verfassen? Alles in der Geschichte Israels hätte die frühen jüdischen Christen dazu ermutigt, eine schriftliche Aufzeichnung des Höhepunkts der Heilsgeschichte zu erstellen, und es ist schwer vorstellbar, dass es dafür eine zwingende Verzögerung gegeben haben könnte.

Wenham selbst liefert Beweise, die mit einer früheren Datierung übereinstimmen, indem er darauf hinweist, dass Matthäus als »professioneller Schreiber« besonders geeignet war, das erste Evangelium zu verfassen. Jesus »unternahm bewusste Schritte, um seine Lehre unter seinen Jüngern zu bewahren«, und Wenham zitiert D. A. Carson, der sagt, dass »aktuelle Forschungen für schriftliche Aufzeichnungen argumentiert haben, die bis in den Dienst Jesu zurückreichen« (S. 112-113). Wenn Matthäus während der Jahre des Wirkens Jesu Notizen machte, wird jede Verzögerung in der Abfassung des Evangeliums noch unerklärlicher.

Vielleicht können wir eine genauere Datierung des Matthäusevangeliums vornehmen. Ich habe in einem aktuellen Artikel argumentiert, dass der Jakobusbrief in den frühen 30er Jahren an jüdische Christen geschrieben wurde, die aufgrund von Verfolgung aus Jerusalem geflohen waren. Die Gemeinsamkeiten zwischen Matthäus und Jakobus wurden von vielen Gelehrten festgestellt. Falls Jakobus seinen Brief in den frühen 30er Jahren schrieb und sich dabei auf das Matthäusevangelium stützte, dann muss Matthäus sein Evangelium innerhalb weniger Jahre nach Pfingsten verfasst haben. Selbst wenn die Abhängigkeit umgekehrt ist und Matthäus von Jakobus beeinflusst wurde, könnten beide vor dem Jahr 35 geschrieben worden sein. Falls sich beide auf ihre geistlich inspirierten Erinnerungen an die Worte Jesu stützten, bleibt eine frühe Datierung plausibel. Man könnte daher einige von Wenhams Datierungen um mehrere Jahre nach vorne verschieben.

Lassen Sie mich Wenham in eine andere Richtung weiterdenken, indem ich einen Vorschlag von James Jordan aufgreife. Falls die kanonische Reihenfolge der Evangelien auch chronologisch ist, dann bietet die Reihenfolge der Evangelien eine skizzierte Geschichte des Neuen Testaments (30-70 n. Chr.) in vier Phasen: die matthäische, markinische, lukanische und johanneische Phase. Die Verbindung von Matthäus mit Jakobus, von Petrus mit Markus und von Lukas mit Paulus legt die Möglichkeit nahe, die Briefe den Evangelien entsprechend anzuordnen. Somit ergeben sich vier Phasen der Geschichte des Neuen Testaments: die matthäisch-jakobinische, die markinisch-petrinische, die lukanisch-paulinische und die johanneische Phase. Möglicherweise lassen sich diese Phasen sogar bestimmten Jahrzehnten zuordnen: Matthäus und Jakobus (und ihre Schriften) waren in den 30er Jahren prominent; Markus und Petrus in den 40er Jahren; Paulus und Lukas in den 50er Jahren; und Johannes in den 60er Jahren.

Wie James Jordan bemerkt hat, entsprechen die vier Evangelien großen Epochen der alttestamentlichen Geschichte. Die matthäisch-jakobinische Phase entspricht dem mosaischen Bund. Jakobus ist der »gesetzlichste« Brief im Neuen Testament. Auch Matthäus stellt Jesus als neuen Mose dar, der aus Ägypten flieht, im Fluss getauft wird, 40 Tage in der Wüste der Versuchung widersteht und dann von einem Berg aus über das Gesetz predigt (Mt 1-7).

Markus entspricht dem davidischen Bund. Markus zeigt Jesus als einen Mann der Tat, einen rastlosen Wanderer, einen siegreichen König (vgl. das häufige »sofort« in seinem Evangelium). Die Betonung auf David in den Petrusbriefen ist nicht sofort ersichtlich. Dennoch könnten die folgenden Punkte einer weiteren Untersuchung wert sein: Petrus ermutigt seine Leser, sich als christliche Soldaten zu verhalten, indem sie ihre Gedanken für den Kampf rüsten (1Petr 1,13; 5,8-9); er nennt Jesus den »Eckstein«, der in Zion gelegt wurde, wobei er eine Stelle aus Jesaja 28 zitiert, die sich möglicherweise auf das Haus Davids bezieht (1Petr 2,6); und er schreibt viel über das Leiden für die Gerechtigkeit, womit auch David vertraut war (1Petr 2,12; 3,13-17).

Lukas zeigt uns Jesus in einem kosmopolitischeren Umfeld. Er datiert Jesu Geburt in Bezug auf die Herrschaft des Kaisers Augustus (Lk. 2,1), zitiert Aussagen und alttestamentliche Passagen zur Bekehrung der Heiden (Lk 2,32; 3,4-6), verfolgt Jesu Genealogie bis zu Adam zurück (Lk 3,38) und berichtet, dass Jesus 70 Jünger aussandte (eine Parallele zu den 70 Nationen der Erde in Genesis 10). Ebenso war Paulus der Apostel der Heiden. Paulus war ein Nehemia, der die Mauern einer neuen Stadt gegen den Widerstand des »Volkes des Landes« errichtete. Die lukanisch-paulinische Phase der neutestamentlichen Geschichte entspricht der Wiederherstellungsperiode des Alten Testaments. Dies war eine Zeit, in der die Juden unter die Heiden verstreut wurden, um Zeugnis abzulegen, und in der viele Heiden konvertierten (vgl. Esther, Daniel).

Irenäus schrieb, dass das Leben Jesu eine Wiederholung der Geschichte der Menschheit und Israels sei. Ohne uns auf alles festzulegen, was Irenäus damit meinte, können wir doch anerkennen, dass sein Einblick korrekt war. Jesus erfüllte alle alttestamentlichen Vorbilder und Schattenbilder, erneuerte sie und verwandelte sie dabei. Ich möchte hier vorschlagen, dass die erste Generation der Kirche – mit dem auferstandenen Christus vereint als die Erstlingsfrucht der neuen Schöpfung – sein Wiedererleben des Alten Bundes nacherlebte und dabei die Phasen Moses, Davids und der Wiederherstellung durchlief. Während der ersten Generation wurde der Alte Bund in die Kirche eingearbeitet und in einen neuen verwandelt.

In diesem Modell war die johanneische Phase der Höhepunkt des Neuen Testaments und brachte die Kirche vollständig in den neuen Bund. Johannes zeigt uns Jesus als den Sohn Gottes. Die vier Evangelien und die vier Phasen der neutestamentlichen Geschichte entsprechen, wie Jordan bemerkt hat, den vier Gesichtern der Cherubim. Jakobus/Matthäus ist der priesterliche mosaische Ochse; Petrus/Markus ist der königliche davidische Löwe; Paulus/Lukas ist der kaiserliche Wiederherstellungs-Adler; Johannes ist der Apostel des neuen Bundes, des Bundes mit einem menschlichen Antlitz, des Bundes des neuen Menschen.

Dieses Schema betont die entscheidende Bedeutung der Zerstörung Jerusalems. Das Neue Testament wurde bis 70 n. Chr. abgeschlossen. Die erste Generation hatte die gesamte Geschichte Israels wiederholt. Während dieser Jahrzehnte verblasste das Alte und das Neue trat hervor. Gott bot den Juden einen neuen Mose, einen neuen David, einen neuen Nehemia an, doch sie nahmen ihn nicht an. Mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt wurde das Alte endgültig zerstört und das Neue kam in seiner Fülle hervor. Kurz vor dem Erschüttern von Himmel und Erde wies Johannes in seinem Evangelium und in der Offenbarung auf die radikale Neuheit des neuen Bundes hin.

Erlauben Sie mir einen weiteren Vorschlag. Die vier Phasen der Rekapitulation des Bundes können auch als eine doppelte Abfolge der Bundesnachfolge betrachtet werden. Meredith Kline argumentierte in Treaty of the Great King, dass das Deuteronomium ein dynastisches Nachfolgedokument sei. Die Erneuerung des Bundes war notwendig, weil Mose sich dem Tod näherte, und die Bundeserneuerung sorgte für eine geordnete Nachfolge durch einen neuen Führer und Bundesvermittler, Josua.

Es ist hilfreich, die Phasen der neutestamentlichen Geschichte aus dieser Perspektive zu betrachten. Die Führer der ersten Phase geben die Fackel an Phase zwei weiter; die dritte Phase gleicht der ersten, aber in einem größeren Kontext, und dann wird die Fackel an die Führer der vierten Phase weitergegeben. Die Phasen 1 und 3 sind mosaisch, während die Phasen 2 und 4 josuanisch sind. Matthäus und Jakobus bildeten die erste mosaische Phase; diese Männer und ihre Schriften gaben dem Neuen Israel in den ersten Jahren nach dem »Exodus« Jesu auf Golgatha die Führung. (Man kann den Jakobusbrief als ein Testament nach dem Vorbild von Genesis 49 und Deuteronomium 33 betrachten, in dem er Segen und Anweisungen an seine Nachfolger weitergibt [vgl. Jak. 1,1].) Als die mosaischen Gestalten Matthäus und Jakobus von der Bildfläche verschwanden, ging die Führung des Bundes auf Markus und Petrus über; dies war eine josuanische Phase, und die Schriften sind voller Action und Bilder von Wettkampf und Kampf.

Mit Paulus und Lukas befinden wir uns in einer zweiten mosaischen Phase, wenngleich der Schauplatz, wie oben gesehen, kosmopolitischer ist als bei Matthäus und Jakobus. Paulus war nicht nur ein Nehemia, sondern auch ein neuer Mose. Paulus und Lukas verschwanden in den frühen 60er Jahren aus dem Blickfeld, und die Führung ging auf Johannes über, der die Kirche auf die Geburtswehen der endgültigen Zerstörung der alten Ordnung vorbereitete.

Erneut wird die Zerstörung Jerusalems hervorgehoben. In diesem Schema entspricht die Eroberung Jerusalems der ersten Schlacht der Eroberung Kanaans, der Zerstörung von Jericho. Dieser Vergleich ist nicht nur im allgemeinen Sinne zutreffend, dass beide Städte von Gott verurteilt wurden, sondern auch in dem spezielleren Sinn, dass beide die erste Schlacht zu einem Eroberungskrieg darstellten. Zur Zeit Jesu waren viele Juden zu Ägyptern und Kanaanitern geworden (Offb. 11,8). Während der ersten Generation war die Kirche wie Israel in der Wüste, das darauf wartete, seine volle Erbschaft anzutreten, und die Sünden der Kanaaniter voll werden ließ. Es gab in der ersten Generation Eroberungen, so wie vor Jericho; aber erst die zweite Generation, diejenigen, die die Zerstörung Jerusalems überlebten und darüber hinaus lebten, zogen vollständig in das Land der neuen Schöpfung ein. Die Wüstenbilder in Hebräer 4 beziehen sich in dieser Lesart spezifisch auf die Generation, die zwischen 30 und 70 lebte. Als diese Generation vergangen war, wurde Jericho zerstört und die Eroberung des gesamten abrahamitischen Erbes begann in vollem Umfang.

Peter Leithart ist der Präsident des Theopolis Institute. Dieser Aufsatz wurde ursprünglich bei Biblical Horizons veröffentlicht.

Der Artikel erschien im Original auf der Seite des Theopolis Institute. Die Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Theopolis Institute durch Tilmann Oestreich.


1. Downers Grove, IL: InterVarsity, 1992