Vor ein paar Jahrzehnten, als ich ein junger Rekonstruktionist war (statt eines mittelalten Post-Rekonstruktionisten), prägte ich den Ausdruck »politischer Polytheismus«, um zu beschreiben, wie moderne evangelikale Christen Fragen des sozialen Rechts und der Politik angehen. Christen wollen die Bibel für Kirche und Familienleben, aber für die Gesellschaft wenden sie sich anderen Göttern zu. Ihre Sozialtheorie ist synkretistisch, eine Mischung aus römischen, griechischen und aufklärerischen Vorstellungen wie »Naturrecht und »Gesellschaftsvertrag«, ganz zu schweigen von der vagen und nebulösen (und inhaltsleeren) Vorstellung der »allgemeinen Gnade«. Gary North hat eine hervorragende erste Untersuchung dieser ganzen Frage in seinem treffend betitelten Buch »Political Polytheism« [1] verfasst.
Leider ist die evangelikale und reformierte Welt auch von hermeneutischem Polytheismus betroffen. In diesem kurzen Aufsatz möchte ich den Leser dazu ermutigen, sich nicht von dieser Tendenz mitreißen zu lassen.
Hermeneutischer Polytheismus tritt auf, wenn die Bibel in verschiedene »Genres« oder Literaturarten aufgeteilt wird. Das Ergebnis des hermeneutischen Polytheismus ist, dass die verschiedenen Teile der Bibel nicht richtig interpretiert werden, weil Mauern zwischen den einzelnen Teilen errichtet wurden.
Mein Anliegen wird klarer, wenn ich Beispiele gebe. In einem jüngst erschienenen Buch findet sich die Auffassung, dass es eine spezifische Methode zur Interpretation der »historischen« Teile der Bibel gibt, eine andere für die »Poesie«, eine weitere für das »Evangelien-Genre« und eine noch andere für das »Briefe-Genre«. Ein weiteres Beispiel ist die besondere Aufmerksamkeit, die sogenannter »apokalyptischer« Literatur in der Bibel gewidmet wird. Ein weiteres Beispiel ist der Wunsch strenger Theonomisten, das »moralische Gesetz« vom »restaurativen Gesetz« zu trennen.
Wenn diese Unterscheidungen lediglich als Faustregeln dienen, ist das gut und hilfreich: Sie können uns helfen, die Bibel besser zu verstehen. Aber wenn sie zu festen Literaturkategorien erhoben werden und spezielle Regeln für jede Kategorie eingeführt werden, sehe ich darin große Gefahren.
Betrachten wir das »Apokalyptische«. Zunächst einmal gibt es keine apokalyptische Literatur in der Bibel. Der Apokalyptizismus, ursprünglich eine Form des jüdischen Gnostizismus, lehrte, dass die Welt bald untergeht und man sich deshalb zurückziehen und auf Erlösung warten solle. (Der Apokalyptizismus ist natürlich eine der großen Irrlehren des amerikanischen Evangelikalismus.) Die prophetischen Abschnitte der Bibel lehren das Gegenteil. Sie lehren stets, dass die Welt einem Neuanfang entgegengeht und dass wir deshalb arbeiten und handeln müssen.
Wodurch zu viele Gelehrte getäuscht werden, ist die Tatsache, dass die späteren prophetischen Bücher der Bibel (jene aus den Epochen der Wiederherstellung und des Neuen Bundes, also die zwei Phasen der letzten Tage) in symbolischer Sprache geschrieben sind – genau wie apokalyptische Literatur. Die große Mehrheit der Kommentatoren zu diesen Büchern missinterpretiert sie aus zwei Gründen schwerwiegend.
Erstens erkennen sie nicht, dass die Symbolik in diesen Büchern aus den Strukturen stammt, die in 1. Mose 1, der Stiftshütte und dem Opfersystem, dem Tempel Salomos und insbesondere dem visionären und symbolischen Tempel in Hesekiel etabliert wurden. Mit anderen Worten: Indem sie das »zeremonielle Gesetz« von der »Apokalyptik« als zwei verschiedene Genres trennen, sind sie nicht in der Lage, diese prophetischen Bücher zu interpretieren.
Zweitens berücksichtigen die meisten Ausleger den historischen Hintergrund dieser Bücher nicht und sehen daher nicht ihre unmittelbare Relevanz. Zum Beispiel sind mehrere Aspekte von Sacharja 1-6 sowie Hesekiel 38-39 in Esther erfüllt worden. Doch diese Gelehrten haben Esther als »historische Novelle« eingeordnet und verknüpfen sie daher nicht mit diesen prophetischen Büchern. Ebenso erkennen sie nicht die Verbindung zwischen dem Palast des Ahasveros in Esther und dem Tempel JHWHs. In gleicher Weise stellen sie keine Verbindung zwischen der Offenbarung des Johannes und der Apostelgeschichte her, was sie jedoch tun sollten.
Ein weiteres Beispiel: das Gesetz. Das Gesetz ist ein nahtloses Gewand und untrennbar mit dem Rest der Bibel verbunden. Es in Teile einzuteilen, indem einige als »zeremoniell« und andere als »moralisch« bezeichnet werden, fügt dem Text Gewalt zu. Man kann die Strafen im »moralischen« Gesetz nicht verstehen, wenn man sie nicht mit der Tötung der Tiere im »zeremoniellen« Gesetz verbindet. Unsere Tradition betrügt uns hier, weil es in evangelikalen und reformierten Kreisen weit verbreitet ist zu sagen, dass das »zeremonielle« Gesetz in Christus erfüllt und daher abgeschafft sei. Stattdessen sollten wir sagen, dass es, weil Christus es erfüllt hat, nun auf eine neue und bessere Weise im Leben und in der Anbetung der Kirche angewandt wird. Eine der größten Schwächen der »Theonomie« liegt genau an diesem Punkt.
Eine der schlimmsten Formen des hermeneutischen Polytheismus stammt von Meredith G. Kline und seiner Vorstellung, dass das sogenannte Alte Testament ein »Kanon« sei und das sogenannte Neue Testament ein anderer. So haben wir zwei Kanons, zwei Lebensregeln. Das ist jedoch falsch. Die Bibel gibt nirgends zu erkennen, dass sie in zwei »Testamente« geteilt werden soll. Es gibt nur eine Bibel, ein durchkomponiertes Buch, nahtlos und untrennbar. Und daher gibt es nur einen Kanon, eine Lebensregel.
Zweifellos hat Paulus einen anderen Stil als Esra, und Samuel wiederum einen anderen. Und zweifellos ist jedes Buch eine Einheit mit eigenen Anliegen. Und sicher haben die Bücher, die für eine bestimmte Epoche geschrieben wurden, unterschiedliche Themen und Anliegen, die zu jeder Phase der Bundesgeschichte passen. Dies zu berücksichtigen ist legitim, aber nur, wenn wir stets daran denken, dass Gott der Endgültige Autor ist und dass die Bibel ein einheitliches Buch ist.
Es gibt keine echten »Genres« in der Bibel, weil die Bibel alle rein menschlichen Formen sprengt. Sie ist das geschriebene Wort des Wortes Gottes selbst und sui generis [2]. Die sogenannte »Genreskritik«, ob von Liberalen oder Konservativen betrieben, ist eine Ablenkung, die von den wahren Strukturen im biblischen Text ablenkt.
Letztendlich behandelt ein solcher Ansatz Gott, als würde er mit vielen verschiedenen Stimmen sprechen, und nähert sich damit einer Art Polytheismus. Im Extremfall stellt der hermeneutische Polytheismus Teile der Bibel sogar gegeneinander.
Hermeneutischer Polytheismus ist, wie politischer Polytheismus, eine Tendenz, keine formale Häresie. Dennoch ist es ein ernsthafter Irrtum, den wir erkennen und vermeiden müssen.
James Jordan war Gastwissenschaftler bei Theopolis. Dieser Aufsatz wurde ursprünglich bei Biblical Horizons veröffentlicht.
Der Artikel erschien im Original auf der Seite des Theopolis Institute. Die Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Theopolis Institute durch Tilmann Oestreich.